Heute habe ich bei SPON einen Artikel veröffentlicht, dessen Herzstück eine Art Stammbaum der IRA ist. Mich nervt seit Jahren, dass in den deutschen Medien immer über „die IRA“ berichtet wird, auch wenn genauere Informationen vorliegen. Die Komplexität der Verhältnisse dort führt dazu, dass wir aus dem Abstand heraus meist viel zu stark simplifizieren. Ich selbst neige nicht dazu, kann es aber auch kaum verhindern.
Im extremsten Fall habe ich einmal erlebt, dass in einem meiner Artikel alle präzisen Angaben (Continuity IRA, Real IRA etc.) im Rahmen der Korrektur zu „IRA“ geändert wurden. Ich habe das leider erst im nachhinein gesehen. Der Artikel war damit natürlich Schrott: Wo vorher über drei Organisationen berichtet wurde, stand jetzt nur noch eine – und zwar eine, die es als Entität so gar nicht gibt. Seit damals trieb mich der Gedanke um, in der Hinsicht mal was Grundsätzliches aufzuschreiben. Hab ich jetzt gemacht und siehe da: das stieß auf jede Menge Interesse.
Und natürlich auf Widerspruch. Vielen gefiel im Forum und in Leserbriefen nicht, dass der Artikel sich „nur“ auf diese vermeintlich katholische Seite stürze und den protestantischen Terror ignoriere. Stimmt, weil es hier ja nur um den „katholischen“ ging.
Vor allem aber sprang bei vielen direkt der Reflex an, die irisch-katholische Seite für gut zu halten, die britisch-protestantische dagegen im Unrecht zu sehen. Manche schrappten nur knapp daran vorbei, die Deportation aller Protestanten nach Schottland zu fordern, andere wollen, dass „England“ Nordirland verlasse. Und die meisten sitzen der uralten Gefahr auf, den vermeintlichen Widerstand der Minderheit zu romantisieren.
Als Privatperson habe auch ich Sympathien und politische Tendenzen, die mich bestimmte Dinge besser bewerten lassen als andere. Man kann übrigens politisch mit der einen oder anderen Seite sympathisieren, ohne Terroristen deshalb für cool zu halten. Sind die nicht, nie, auf keiner Seite.
Wer Leute ermordet, sich von Schutzgelderpressung, Baubetrug, Drogenschmuggel oder Raubüberfällen ernährt; wer Leuten die Kniescheiben zerschießt und sich selbst zur Ordnungsmacht aufschwingt, die via Angst regiert und Andersdenkende terrorisiert, der ist ein Arschloch – die gibt es in linken wie rechten, in katholischen wie protestantischen, in deutschen wie irischen Varianten. Wir sollten uns bemühen, den moralischen Abstand zu solchen Leuten nicht zu verlieren, wenn wir über Politik reden (oder schreiben).
Das gilt besonders für mich als Journalist. Ich versuche, so ein Thema so analytisch und „sachlich“ anzugehen, wie das möglich ist. So eine Perspektive kann nicht davon ausgehen, dass ein Zweck die Mittel heiligt. Sie muss benennen, was ist.
Das schließt Bewertung nicht aus, aber das ist eine andere Ebene. Wenn ich kommentiere, dann mache ich klar, wo ich aus ethisch-moralischer Perspektive Schuld sehe oder Fehlverhalten. Das macht mich aber nicht blind für das Fehlverhalten der „anderen Seite“. Ethik ist wichtig, und manchmal aus sich selbst heraus politisch: Ich halte beispielsweise den Umgang Großbritanniens und der nordirischen Justiz mit dem Thema Bloody Sunday für einen himmelschreienden Skandal (und habe das in meiner Analyse der Nachricht auf SPON auch klargemacht). Mörder ist Mörder, egal ob in Uniform oder nicht. Und Mörder sollten bestraft werden – egal auf welcher Seite sie stehen oder was sie politisch vertreten oder wollen. Dass das offenbar nicht passieren wird, wird die Stimmung in Nordirland nicht verbessern.
Den Toten ist es übrigens komplett egal, ob sie von Terroristen, Soldaten, Polizisten oder Freiheitskämpfern erschossen wurden.
Wir sollten uns darum bemühen, unsere Nicht-Täter-Perspektive nicht zu verlieren. Und die darf nie bestimmt sein von der Frage, was jemand mit einer Aktion will und ob wir das gut finden oder nicht.
Man muss fragen:
Ist es Tat, oder ist es Notwehr?
Ist es gut? Kann man es rechtfertigen?
Oder ist es verwerflich, ist es böse?
Das sind die einzigen Fragen, die von Belang sind, wenn man über Terror und Gewalt schreibt.