Sachlich kann knallhart sein

Diese Woche überraschte Gesundheitsminister Jens Spahn damit, dass er einen  Pfleger, der ihn auf Social-Media-Plattformen angegriffen hatte, als Experten mit zur Bundespressekonferenz brachte.
Und siehe da: Der Mann redete kohärent, klar und kompetent. In der Kurzform der Nachrichten hat Spahn mit der Einladung von Pfleger Ricardo Lange einen echten PR-Coup gelandet. Hört man sich aber ungekürzt an, was er auf Fragen von Tilo Jung zu sagen hatte, geht der Schuss  deutlich nach hinten los. Der Pfleger glänzt da kräftig, Minister Spahn nicht.

Baerbockig: Wie unjung muss man sein, um hier gewählt zu werden?

Vor ein paar Tagen habe ich irgendwo den an Blödheit kaum mehr zu überbietenden Satz gelesen, Annalena Baerbock könne man kein politisches Amt zutrauen, weil sie eine „Quietschestimme wie ein Kind“ habe. Das finde ich super. Das ist, als würde ich Friedrich Merz Talent fürs Schwimmen absprechen, weil er eine zu hohe Stirn hat. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir fallen in Bezug auf beide deutlich sachlichere Dinge ein, wenn es um die Diskussion ihrer Limitierungen geht.

Ähnlich kurz greift das Argument, sie habe zu wenig Erfahrung, sei generell irgendwie zu jung, um unter alten, gewieften Politikern zu bestehen (so wie Jacinda Ardern, als sie mit 37 Premierministerin wurde?) oder plane gar den Umbau der Gesellschaft entlang irgendwelcher – Gott bewahre! – politischer Ideen, wie man Dinge besser machen könnte. Was, wenn das dann die falschen Ideen wären? Wenn uns die Veränderung aus dem soliden Stillstand des Status Quo führen würde, mit ungewissem Ausgang?

Ja was, frage ich mich auch, was wäre dann? Dann wäre das vielleicht gut so, und anderenfalls würde die übrigens keineswegs bereits gewählte Frau Baerbock eben nach vier Jahren wieder abgewählt. Die stockbürgerlichen Grünen, früher auch als „FDP in Latzhose“ bekannt, sind sehr weit davon entfernt, diesen Staat irgendwie revolutionär umstülpen zu wollen. Wer das nicht glaubt, frage in Stuttgart nach.

Die deutsche Angst vor Veränderung kann ich nicht verstehen. Was hat uns so ängstlich werden lassen, wir waren doch nicht immer so, oder?

Klar, Veränderung kann schlecht sein, blickt man aber in die Geschichte zurück, war sie gesellschaftlich gesehen meist gut. Unser aller Leben ist heute komfortabler, sicherer und länger als vor 20, 40,  60 oder 700 Jahren. Es gibt keinen Grund, sich in irgendein deutsches Gestern zurückzuwünschen (außer vielleicht, weil man damals jung und wild war und so viel Spaß hatte).

Mittlerweile scheint dieser Wunsch aber so stark, dass große Teile der Bevölkerung schon bei dem Gedanken in Panik verfallen, nicht von angemessen greisen Politikern von gestern regiert zu werden. Und sehr viele Bürger scheinen zu glauben, dass Politik nicht durch Ideen und Ideale, sondern nur durch Zynismus und Härte erfolgreich sein könnte – ein demokratisches Armutszeugnis.

Liebe 50plusser: wir waren mal eine politische Generation

Ich begreife das nicht. Und am wenigsten verstehe ich es, wenn es um meine Generation geht: Wir „Boomer“ haben in unserer Jugend Politik doch völlig anders kennengelernt. Die meisten von uns wünschten sich nichts mehr als Veränderung zum Besseren durch Veränderung des Bestehenden. Es war normal, dass man das als Fortschritt und damit als etwas Erstrebenswertes empfand.

Ich jedenfalls war als Minderjähriger Feuer und Flamme für Ideen und Bewegungen. Umwelt und Atomkraft, Friede und Abrüstung, der Kampf gegen Volksbefragung und Überwachungsstaat waren keine abstrakten Themen, sondern Reaktionen auf konkrete Bedrohungen, denen wir konstruktiv Entwürfe, Ideen und Träume entgegensetzten.

Denn vor allem war Politik doch auch ein Gestaltungsraum, der Mitwirkung versprach! Wir hatten eine Vorstellung davon, wie der Staat sein sollte, in dem wir leben wollten. Deshalb latschte ich Anfang der 80er Ostern quer durchs Ruhrgebiet, protestierte vor im Wald versteckten Herkules-Raketenstellungen oder erlebte mein persönliches Woodstock, als Heinrich Böll in Bonn einer Million von uns direkt ins Herz redete.

Ich habe als Jugendlicher natürlich daran geglaubt, dass man die Welt verbessern könnte gegen all diese Kohls, Strauß‘, Zimmermanns, gegen Reagans, Breschnews und Jaruzelskis. Sie nicht?

Das waren alles alte, weiße Männer voller Erfahrung. Sind das wirklich Kriterien, nach denen wir Politiker beurteilen sollten?

Was ich weit wichtiger finde ist, dass jemand Menschen aus den richtigen Gründen bewegt. Wenn jemand Ideen vertritt, die man als konstruktiv empfinden kann, als dem Gemeinwohl nützlich, dann ist das in sich gut. Und wenn über solche Ideen dann geredet wird, ist auch das zu begrüßen, selbst wenn es im Streit geschieht. Eine Gesellschaft, die das nicht mehr tut, ist tot.

Was ich mir wünsche: ein Revival ideell motivierter Diskussionen

Finde ich persönlich Annalena Baerbock gut? Ja, weil sie meine Kinder, meine Freunde, meine Mutter und meine Nachbarn endlich wieder dazu bringt, miteinander über Politik und Inhalte zu reden. Nicht unisono einer Meinung, sondern auch im Streit miteinander, aber festgemacht an einer Debatte über das Morgen, den nächsten Schritt, über das, was nötig ist und was nicht.

Ich finde das erfrischend und befreiend. Nicht nur als Journalist würde ich mir einen Wahlkampf wünschen, in dem es um mehr geht als um die glattesten Phrasen, die besten Kugelschreiber und Luftballons. Ich fände es Klasse, wenn Leute sich mal wieder positiv für etwas begeistern würden: nicht nur aus der Angst um den eigenen Lebensstandard motiviert oder – noch schlimmer – aus Hass auf Schwächere. Es wäre doch toll, wenn sich Menschen mal wieder konstruktiv mit den einzig wichtigen politischen Fragen beschäftigten: Wer wollen wir sein, wie wollen wir sein und wie kommen wir dahin?

Wenn das passiert, wissen doch gerade wir Boomer, ist es am Ende sogar egal, wer die gerade umstrittene Wahl gewinnt. Die Ziele „unserer“ angeblich gescheiterten Friedensbewegung hatten sich wenige Jahre später fast alle deutschen Parteien zu eigen gemacht. In noch höherem Maße gilt das für die Umweltbewegung, die im Grunde alle Parteien „ergrünen“ ließ. Wichtig ist, dass über Inhalte, Ideen und Ziele gestritten wird. Unter uns Boomern habe ich das seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Jetzt läuft das wieder, und das ist erstmal gut so.

P.S.: 92 der 709 deutschen Bundestagsabgeordneten sind 40 Jahre oder jünger. 420 Abgeordnete sind 50plus, 165 davon 62 Jahre alt oder älter. Wenn die deutsche Politik eines nicht hat, dann ist das ein Jugendproblem.

Sehenswert: maiLab zu den Astrazeneca-Fragen

Mai Thi Nguyen-Kim ist Deutschlands zeitgemäßeste Klartext-Rednerin in allen Dingen, die Sachlichkeit und Wissen erfordern. Hier erklärt sie völlig verständlich und nachvollziehbar all die Dinge rund um Astrazeneca, die Jens Spahn und Co. versäumt haben zu erklären. Zu ihrem Fazit kann ich nur nicken.

Perspektiven: Schreiben über Terror

Heute habe ich bei SPON einen Artikel veröffentlicht, dessen Herzstück eine Art Stammbaum der IRA ist. Mich nervt seit Jahren, dass in den deutschen Medien immer über „die IRA“ berichtet wird, auch wenn genauere Informationen vorliegen. Die Komplexität der Verhältnisse dort führt dazu, dass wir aus dem Abstand heraus meist viel zu stark simplifizieren. Ich selbst neige nicht dazu, kann es aber auch kaum verhindern.

Im extremsten Fall habe ich einmal erlebt, dass in einem meiner Artikel alle präzisen Angaben (Continuity IRA, Real IRA etc.) im Rahmen der Korrektur zu „IRA“ geändert wurden. Ich habe das leider erst im nachhinein gesehen. Der Artikel war damit natürlich Schrott: Wo vorher über drei Organisationen berichtet wurde, stand jetzt nur noch eine – und zwar eine, die es als Entität so gar nicht gibt. Seit damals trieb mich der Gedanke um, in der Hinsicht mal was Grundsätzliches aufzuschreiben. Hab ich jetzt gemacht und siehe da: das stieß auf jede Menge Interesse.

Und natürlich auf Widerspruch. Vielen gefiel im Forum und in Leserbriefen nicht, dass der Artikel sich „nur“ auf diese vermeintlich katholische Seite stürze und den protestantischen Terror ignoriere. Stimmt, weil es hier ja nur um den „katholischen“ ging.

Vor allem aber sprang bei vielen direkt der Reflex an, die irisch-katholische Seite für gut zu halten, die britisch-protestantische dagegen im Unrecht zu sehen. Manche schrappten nur knapp daran vorbei, die Deportation aller Protestanten nach Schottland zu fordern, andere wollen, dass „England“ Nordirland verlasse. Und die meisten sitzen der uralten Gefahr auf, den vermeintlichen Widerstand der Minderheit zu romantisieren.

Als Privatperson habe auch ich Sympathien und politische Tendenzen, die mich bestimmte Dinge besser bewerten lassen als andere. Man kann übrigens politisch mit der einen oder anderen Seite sympathisieren, ohne Terroristen deshalb für cool zu halten. Sind die nicht, nie, auf keiner Seite.

Wer Leute ermordet, sich von Schutzgelderpressung, Baubetrug, Drogenschmuggel oder Raubüberfällen ernährt; wer Leuten die Kniescheiben zerschießt und sich selbst zur Ordnungsmacht aufschwingt, die via Angst regiert und Andersdenkende terrorisiert, der ist ein Arschloch – die gibt es in linken wie rechten, in katholischen wie protestantischen, in deutschen wie irischen Varianten. Wir sollten uns bemühen, den moralischen Abstand zu solchen Leuten nicht zu verlieren, wenn wir über Politik reden (oder schreiben).

Das gilt besonders für mich als Journalist. Ich versuche, so ein Thema so analytisch und „sachlich“ anzugehen, wie das möglich ist. So eine Perspektive kann nicht davon ausgehen, dass ein Zweck die Mittel heiligt. Sie muss benennen, was ist.

Das schließt Bewertung nicht aus, aber das ist eine andere Ebene. Wenn ich kommentiere, dann mache ich klar, wo ich aus ethisch-moralischer Perspektive Schuld sehe oder Fehlverhalten. Das macht mich aber nicht blind für das Fehlverhalten der „anderen Seite“. Ethik ist wichtig, und manchmal aus sich selbst heraus politisch: Ich halte beispielsweise den Umgang Großbritanniens und der nordirischen Justiz mit dem Thema Bloody Sunday für einen himmelschreienden Skandal (und habe das in meiner Analyse der Nachricht auf SPON auch klargemacht). Mörder ist Mörder, egal ob in Uniform oder nicht. Und Mörder sollten bestraft werden – egal auf welcher Seite sie stehen oder was sie politisch vertreten oder wollen. Dass das offenbar nicht passieren wird, wird die Stimmung in Nordirland nicht verbessern.

Den Toten ist es übrigens komplett egal, ob sie von Terroristen, Soldaten, Polizisten oder Freiheitskämpfern erschossen wurden.

Wir sollten uns darum bemühen, unsere Nicht-Täter-Perspektive nicht zu verlieren. Und die darf nie bestimmt sein von der Frage, was jemand mit einer Aktion will und ob wir das gut finden oder nicht.

Man muss fragen:
Ist es Tat, oder ist es Notwehr?
Ist es gut? Kann man es rechtfertigen?
Oder ist es verwerflich, ist es böse?

Das sind die einzigen Fragen, die von Belang sind, wenn man über Terror und Gewalt schreibt.