Vor ein paar Tagen habe ich irgendwo den an Blödheit kaum mehr zu überbietenden Satz gelesen, Annalena Baerbock könne man kein politisches Amt zutrauen, weil sie eine „Quietschestimme wie ein Kind“ habe. Das finde ich super. Das ist, als würde ich Friedrich Merz Talent fürs Schwimmen absprechen, weil er eine zu hohe Stirn hat. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir fallen in Bezug auf beide deutlich sachlichere Dinge ein, wenn es um die Diskussion ihrer Limitierungen geht.
Ähnlich kurz greift das Argument, sie habe zu wenig Erfahrung, sei generell irgendwie zu jung, um unter alten, gewieften Politikern zu bestehen (so wie Jacinda Ardern, als sie mit 37 Premierministerin wurde?) oder plane gar den Umbau der Gesellschaft entlang irgendwelcher – Gott bewahre! – politischer Ideen, wie man Dinge besser machen könnte. Was, wenn das dann die falschen Ideen wären? Wenn uns die Veränderung aus dem soliden Stillstand des Status Quo führen würde, mit ungewissem Ausgang?
Ja was, frage ich mich auch, was wäre dann? Dann wäre das vielleicht gut so, und anderenfalls würde die übrigens keineswegs bereits gewählte Frau Baerbock eben nach vier Jahren wieder abgewählt. Die stockbürgerlichen Grünen, früher auch als „FDP in Latzhose“ bekannt, sind sehr weit davon entfernt, diesen Staat irgendwie revolutionär umstülpen zu wollen. Wer das nicht glaubt, frage in Stuttgart nach.
Die deutsche Angst vor Veränderung kann ich nicht verstehen. Was hat uns so ängstlich werden lassen, wir waren doch nicht immer so, oder?
Klar, Veränderung kann schlecht sein, blickt man aber in die Geschichte zurück, war sie gesellschaftlich gesehen meist gut. Unser aller Leben ist heute komfortabler, sicherer und länger als vor 20, 40, 60 oder 700 Jahren. Es gibt keinen Grund, sich in irgendein deutsches Gestern zurückzuwünschen (außer vielleicht, weil man damals jung und wild war und so viel Spaß hatte).
Mittlerweile scheint dieser Wunsch aber so stark, dass große Teile der Bevölkerung schon bei dem Gedanken in Panik verfallen, nicht von angemessen greisen Politikern von gestern regiert zu werden. Und sehr viele Bürger scheinen zu glauben, dass Politik nicht durch Ideen und Ideale, sondern nur durch Zynismus und Härte erfolgreich sein könnte – ein demokratisches Armutszeugnis.
Liebe 50plusser: wir waren mal eine politische Generation
Ich begreife das nicht. Und am wenigsten verstehe ich es, wenn es um meine
Generation geht: Wir „Boomer“ haben in unserer Jugend Politik doch völlig anders kennengelernt. Die meisten von uns wünschten sich nichts mehr als Veränderung zum Besseren durch Veränderung des Bestehenden. Es war normal, dass man das als Fortschritt und damit als etwas Erstrebenswertes empfand.
Ich jedenfalls war als Minderjähriger Feuer und Flamme für Ideen und Bewegungen. Umwelt und Atomkraft, Friede und Abrüstung, der Kampf gegen Volksbefragung und Überwachungsstaat waren keine abstrakten Themen, sondern Reaktionen auf konkrete Bedrohungen, denen wir konstruktiv Entwürfe, Ideen und Träume entgegensetzten.
Denn vor allem war Politik doch auch ein Gestaltungsraum, der Mitwirkung versprach! Wir hatten eine Vorstellung davon, wie der Staat sein sollte, in dem wir leben wollten. Deshalb latschte ich Anfang der 80er Ostern quer durchs Ruhrgebiet, protestierte vor im Wald versteckten Herkules-Raketenstellungen oder erlebte mein persönliches Woodstock, als Heinrich Böll in Bonn einer Million von uns direkt ins Herz redete.
Ich habe als Jugendlicher natürlich daran geglaubt, dass man die Welt verbessern könnte gegen all diese Kohls, Strauß‘, Zimmermanns, gegen Reagans, Breschnews und Jaruzelskis. Sie nicht?
Das waren alles alte, weiße Männer voller Erfahrung. Sind das wirklich Kriterien, nach denen wir Politiker beurteilen sollten?
Was ich weit wichtiger finde ist, dass jemand Menschen aus den richtigen Gründen bewegt. Wenn jemand Ideen vertritt, die man als konstruktiv empfinden kann, als dem Gemeinwohl nützlich, dann ist das in sich gut. Und wenn über solche Ideen dann geredet wird, ist auch das zu begrüßen, selbst wenn es im Streit geschieht. Eine Gesellschaft, die das nicht mehr tut, ist tot.
Was ich mir wünsche: ein Revival ideell motivierter Diskussionen
Finde ich persönlich Annalena Baerbock gut? Ja, weil sie meine Kinder, meine Freunde, meine Mutter und meine Nachbarn endlich wieder dazu bringt, miteinander über Politik und Inhalte zu reden. Nicht unisono einer Meinung, sondern auch im Streit miteinander, aber festgemacht an einer Debatte über das Morgen, den nächsten Schritt, über das, was nötig ist und was nicht.
Ich finde das erfrischend und befreiend. Nicht nur als Journalist würde ich mir einen Wahlkampf wünschen, in dem es um mehr geht als um die glattesten Phrasen, die besten Kugelschreiber und Luftballons. Ich fände es Klasse, wenn Leute sich mal wieder positiv für etwas begeistern würden: nicht nur aus der Angst um den eigenen Lebensstandard motiviert oder – noch schlimmer – aus Hass auf Schwächere. Es wäre doch toll, wenn sich Menschen mal wieder konstruktiv mit den einzig wichtigen politischen Fragen beschäftigten: Wer wollen wir sein, wie wollen wir sein und wie kommen wir dahin?
Wenn das passiert, wissen doch gerade wir Boomer, ist es am Ende sogar egal, wer die gerade umstrittene Wahl gewinnt. Die Ziele „unserer“ angeblich gescheiterten Friedensbewegung hatten sich wenige Jahre später fast alle deutschen Parteien zu eigen gemacht. In noch höherem Maße gilt das für die Umweltbewegung, die im Grunde alle Parteien „ergrünen“ ließ. Wichtig ist, dass über Inhalte, Ideen und Ziele gestritten wird. Unter uns Boomern habe ich das seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Jetzt läuft das wieder, und das ist erstmal gut so.
P.S.: 92 der 709 deutschen Bundestagsabgeordneten sind 40 Jahre oder jünger. 420 Abgeordnete sind 50plus, 165 davon 62 Jahre alt oder älter. Wenn die deutsche Politik eines nicht hat, dann ist das ein Jugendproblem.