Selektiv Sehen (I): Mangel an Abstand öffnet Perspektiven

Wie die Welt aussieht, hängt stark von der Perspektive ab, die man wählt. Kinder können das prächtig: Sie schauen konzentriert aufs Detail und entdecken Dinge, die wir meist nicht mehr bemerken. Am Morgen des 6. Januar ging ich zu unserem Gerätehaus im Garten, um etwas wegzupacken. Als ich mich aufrichtete, stieß ich mir fast den Kopf, weil ich die Dachkante vergessen hatte: So landete ich mit der Nase nur Zentimeter von der Dachpappe entfernt und schaute auf eine „Landschaft“ von Eiskristallen, quasi in Makro-Sicht.

Die Bilder unten zeigen, wie eine profane Dachfläche aussehen kann, wenn man den Abstand aufgibt.

Kleine, eisige Eier, auf denen Kristalle wachsen?
Abstand macht die Größe klar: Was auch immer das ist, es ist wirklich winzig.
Schräg über die Dachfläche hinweg fotografiert: Wie Pocken kleben die eisigen Bällchen auf der Dachpappe.
Es sind drei Tage alte Hagelkörner, über die der Raureif Kristalle hat wachsen lassen.

Kleine Ehren: Ich bin Prüfungsrelevant

selfies

Gestern bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass mein Selfie-Text vom Juni letzten Jahres Abituraufgabe Nummer Drei im niedersächsischen Deutsch-Abitur 2016 war (und offenbar eine ziemlich populäre Wahl).

Hüstel-hüstel: Es wäre geheuchelt, wenn ich behaupten würde, dass das meiner Wenigkeit nicht schmeichelte.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass mich die meisten der Abiturienten offenbar für uralt und komplett ahnungslos halten. So irritierte der Titel „Egoshooter“ die meisten der Kids ganz erheblich, weil der ja irreführend und unpassend war und zu Verwechslungen mit den gleichnamigen Videospielen führen konnte. Aber darum ging es inhaltlich ja gar nicht!

Schwamm drüber, schnell hatten alle kapiert, dass es in Wahrheit um Selfies ging (und manche erkannten sogar, dass das was mit Egozentrik zu tun haben könnte). Aaaaaaber, „schwache Argumente“ hätte ich, schrieb ein Schüler in einem Diskussionsforum: „Ich meine, wen interessiert die Meinung seiner Frau?“

Genau, denke ich auch manchmal. Man lernt dann aber im Laufe seines Lebens, dass sich Relevanz im Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen anders definiert.

Ein anderer analysierte tiefergehend: „Vor allem scheint der Autor jemand aus der alten Generation zu sein, der selbst nie die tatsächliche Wirkung von Selfies erprobt hat (so blöd es auch klingt). Er sinniert da quasi über Dinge, über die er nicht fachkundig ist.“

Hallo? Ich könnte ihm jetzt Selfies zeigen, die ich 1978 – OHNE STANGE! – gemacht habe. Aber erstens sah ich mit den langen Haaren und der knallengen, weißen Schlaghose nach heutigen Maßstäben so dämlich aus, dass mich das vollends diskreditieren würde. Und zweitens müsste ich ihm erklären, dass sich mein Selfie von seinen Selfies tatsächlich massiv unterschied.

Trotzdem: Sowas liest man doch gern, wenn sich junge Leute so eingehend mit einem Text beschäftigen, von dem sie offenbar annehmen, er wäre strategisch geplant: „Mir ist aufgefallen, dass er bei Befürwortung Hypotaxen verwendet und bei Ablehnungen Parataxen„, erkennt Forennutzer und Frisch-Abiturient „mamapa“ scharfsinnig.

Echt jetzt? Da kann mal sehen. Man lernt nicht aus, auch über sich. „mamapa“ weiter: „Jedoch konnten die Hypotaxen seine Argumente auch nicht wirklich bestätigen, da die Argumente, wie ich finde, sehr schwach waren.“

Klar, davon gingen wir inzwischen ja schon aus.

Zur Rettung der eigenen Ehre: So einige sahen das auch anders. Unter dem Strich kam ich sogar ganz gut weg mit meiner Abiturtext-Vorlage. Könnte man vielleicht so zusammenfassen: Gemessen an meinem biblischen Alter bin ich gar nicht so doof, wie man erwarten müsste.

Das sah sogar „RoxasNova“ so, die sich redlich bemüht hatte, irgendwo in meinem Geschreibsel die bösartige Fußangel zu finden: „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich extrem paranoid bin, und versteckte Botschaften nicht identifizieren konnte… aber der Text war sehr angenehm.“

Danke dafür, Euch allen!
In Echt, ich so: Yo!

P.S.: Könnte mir vielleicht mal ein 17-jähriger „die tatsächliche Wirkung von Selfies“ (siehe oben) erklären? Steht die im Gegensatz zur Angeblichen? Und auf wen wirkt sie? Und wie und wozu?
Könnte es sein, dass ich wirklich was verpasst habe?

P.P.S.: In einer früheren Version dieses Textes hatte ich das hintere „i“ in „Abiturient“ vergessen. Der Lack ist halt ab in meinem Alter: Da übersieht man sowas. Abzug in der B-Note, mindestens.

 

Smart?

Freunden gehe ich mitunter auf den Keks, weil ich oft schwer erreichbar bin. Tagsüber sitze ich an meinem Arbeitsplatz, da steht ein Telefon. In meiner Freizeit brauche ich das nicht. Ein privates Handy habe ich noch nie besessen, mein Diensthandy mache ich nur an, wenn ich dienstlich unterwegs bin oder wirklich dringend jemanden erreichen muss.

Ansonsten nehme ich mir die Freiheit, nicht ständig kommunizieren zu müssen.

Ich mache das so seit 2002 und bin gut damit gefahren. In den letzten zwei Jahren spüre ich, wie der Druck wächst, „mehr“ mit meinem Handy zu tun. Ich habe ein iPhone, aber den iTunes-Account nicht aktiviert. Das Ding hat deshalb keinerlei Apps.

Es ist eine bewusste Entscheidung. Ich vermisse und verpasse absolut nichts dabei. Wenn ich einen Weg nicht finde, frage ich jemanden. Wenn ich ein Restaurant suche, lasse ich mir keins von meinem Handy vorschlagen, sondern laufe los und schaue in die Fenster. Wenn da viele Leute sitzen, und es denen offenbar gut geht, geh ich hinein.

Wenn ich mit Leuten zusammen bin, erwarte ich, dass die nicht telefonieren. Wenn das überhand nimmt, sage ich es. Mein Handy ist in Gesellschaft deaktiviert, so wie im Kino, im Flugzeug, im Zug. Wenn ich wirklich telefonieren muss, verlasse ich den Raum oder sehe zu, dass ich mich von meiner Gesellschaft (egal ob Freunde oder Fremde) soweit distanziere, dass ich die mit meinem Gespräch nicht belästige.

Ich empfinde die Manie der absoluten Erreichbarkeit als ungesund. Es nimmt unserem Erleben die Qualität. Die Spitze sind für mich diese Gestalten, die auf Konzerten ihre Handies in die Luft halten und nonstop mitfilmen.

Für wen?
Wozu?

Manchmal ärgere ich mich, wenn ich etwas Tolles sehe und keine Kamera dabeihabe. „Macht nix“, sagt mein Schatz dann oft, „das kannst Du eh nicht fotografieren.“

Fast immer stimmt das. Augenblicke kann man nicht festhalten, sie sind aus Zeit und Ort und Gefühl gemacht. Wer kein Handy dabei hat, muss es sich selbst merken: Was man dabei spürt, nennen die Amis „quality time“.

Die kann man schnell verpassen:

Ist das smart?