
Seit sich die deutsche Nationalelf öffentlich als Helene-Fischer-Fanclub geoutet hat, unternehmen immer mehr Kulturjournalisten Expeditionen in die Unterwelt des fehlenden Musikgeschmackes des deutschen Normalbürgertums. Die meisten können nicht fassen, was die dort finden: Eine ausgeprägte Vorliebe für grottigen, synthetisch in 20 Minuten zusammengehauenen Eurotrash-Mist zu Heilewelt-Singsang, serviert von frisch desinfizierten Cyborgs, die offenbar nichts mehr hassen als
a) die deutsche Sprache (stattdessen: Hauptsache, es reimt sich!) und
b) Musik (stattdessen: Drumcomputer plus PC-Midi-Gedudel aus Standard-Samples).
Mir geht es da ganz ähnlich.
Ich kann allerdings auch nicht fassen, dass das irgendjemanden überrascht.
Was ist daran neu? Gehen Feuilletonisten nie vor die Tür? Kennen die keine normalen Menschen?
Die Diskussion um das unsäglich oberflächliche Geschwubber von Andrea Berg, Helene Fischer und Co. ist eine höchst elitäre Kiste. Auf normale Bürger wirkt das nur arrogant. Die Damen und ihr Gedudel sind absolut mehrheitsfähig. Darüber kann man heulen oder meckern, aber ändern kann man das kaum. Klar, natürlich kann auch ich über einen so herrlich gelungenen Vollverriss lachen wie den Artikel von Johanna Adorjan in der aktuellen FAS. Da sitzt jede vollauf berechtigte Watsche. Das ändert aber nichts daran, dass es völlig wirklichkeitsfremd ist.
Ich kann die Bergs, Eglis und Fischers auch nicht auseinanderhalten. Ich kenne auch ihre Lieder nicht: Im Radio höre ich sie nicht, weil ich Sender, wo man Gefahr läuft, sowas zu hören, eben nicht höre. Da brauche ich noch nicht mal umschalten. Und doch kenne ich die Melodien, denn die sind im öffentlichen Raum nun mal allgegenwärtig. Ich höre sie auf privaten Feiern, wenn ich muss und es nicht vermeiden kann, und auf öffentlichen Feten sind sie eh der Standard-Soundtrack. Fällt kaum auf, weil sie seit Jahrzehnten alle gleich klingen.
Klar ist das schade, aber Geschmack kann man nicht verordnen. Die Leute tanzen darauf, die Mehrheit findet es heiter und schön. Es prägt die deutsche Alltags-Musikkultur, wer das nicht mitbekommt, lebt in einer musikalischen Subkultur. Das gilt natürlich auch für mich, aber ich weiß es zumindest.
Auch wenn man selbst Pickel dabei bekommt, muss man zugeben, dass dieser primitivmusikalische Auswurf zumindest die Stimmung hebt. Und zwar Generationsübergreifend, von Kindern bis zum Senior, was tatsächlich etwas Positives ist. Wenn es um Schlager geht, gibt es in Deutschland keinen Generationenkonflikt. „Atemlos“ ist bestimmt ein Lied, dass Podolski, sein Sohn und Merkel zusammen gröhlen könnten. Die Bevölkerung ist entlang anderer Grenzen gespalten, und die sind – siehe oben – eher kultureller Natur.
Am Samstag war ich auf einem 50. Geburtstag. Klingt alt, aber man muss das mal klar sagen: Wir reden hier eigentlich über die Generation von Punk und Hiphop. Ich bin auch so einer, und ich bin mit Prog-Rock und Punk, mit frühem Rap und New Wave sozialisiert worden. Die Musik meiner Jugend war absolute Auflehnung gegen alles Hergebrachte.
Manche von uns haben sich das bewahrt, die meisten nicht. Sie sind irgendwann aus der musikalischen Welt gefallen, ihre deutsche Version davon hängt in einer Art 80er-Jahre-Dauerschlaufe fest. Akzeptiert wird, was mindestens 30 Jahre alt ist oder wenigstens so klingt. Und eben Schlager, der sich ja eigentlich seit 70 Jahren nicht wirklich weiterentwickelt. Man hat nur seine Herstellung weitgehend automatisiert.
So ist das eben. Irgendwann habe ich es an dem Abend geschafft, der feiernden Truppe etwas Neueres unterzujubeln. Keine Chily Peppers, nichts Hartes oder Neues oder – um Himmels willen! – Innovatives: Ganz strammer Mainstream, dachte ich, wäre wohl das Beste. Ein Stück, das vielleicht nicht jeder mitsingen kann, aber das jeder kennt und das keinem wehtut.
Die Tanzfläche leerte sich fast umgehend bis auf wenige Wackere. Ein aufgekratzter Mittfünfziger bewies Toleranz und sprach mich an: „Dat is jezz wat Neues, ne? Wat Moderneres, oder?“
Ja, gab ich mutig zu.
„Ah“, antwortete er, „is ja auch mal nich falsch. Kann man schon hören, oder?“
Hatte er vorher allerdings noch nicht – er kannte das Stück nicht. Wohl, weil er keine Sender hört, wo sowas gespielt würde: „Waves“ von Mr. Probz.
Seit 26 Wochen in den Charts, europaweit als No-1-Hit fast totgedudelt, immer noch auf Platz 24, im Radio-Airplay aktuell bundesweit sogar auf Platz 8. Die Essenz von dem, was wir Mainstream nennen und was den Kulturredakteur fast so sehr graut wie Helene und Co..
Doch das ist ein Irrtum. Probz ist kein Mainstream, sondern etwas Fremdes. Man versteht es nicht, man kann es nicht mitsingen. Deshalb braucht das Zeit. „Waves“ ist das, was in zehn Jahren vielleicht auch hierzulande auf Silberhochzeiten akzeptabel sein wird. So, wie Queen oder Brian Adams heute.
Aber Mainstream, das war, ist und wird die ewige, atemlose Helene sein.
Oder wie auch immer die dann heißt.