Nerdig I.: Wissen und Weltwahrnehmung

Fliegen, schrieb einst der britische Schriftsteller und Humorist Douglas Adams, sei ganz einfach: Man müsse sich nur auf den Boden werfen, aber daneben.

Klarer kann man das nicht sagen. Der Satz beschreibt auch perfekt, wie Nerds die Welt wahrnehmen und deuten. Denn das muss man sich klarmachen: Nerd zu werden ist nicht möglich ohne gewisse Anpassungen im Bereich der Wahrnehmung der sogenannten Realität.

Ist schon klar, denkt sich da der Normaldenkende. Aber wie bekommt man das ohne den Einsatz illegaler Substanzen hin?

Die Antwort liegt auf der Hand. Man muss lernen, aus dem Informationschaos, mit dem uns die Welt belästigt und belastet, das wirklich Wesentliche herauszuziehen. Nerdig zu denken bedeutet, die Realität auf ihre Essenz zu reduzieren.

Man braucht also eine Art intellektuelle Scheuklappe, die außer dem Wesentlichen alles abdeckt und verbirgt, um die Essenz des Wesentlichen zu erkennen, sozusagen des Pudels Kern. Dann lässt sich aus der Beobachtung der Dinge quasi eine Gebrauchsanweisung für das Leben generieren.

Nehmen wir zum Beispiel die Sache mit dem Fliegen. Was muss man wirklich lernen, um der Schwerkraft zu entfliehen?

Die meisten Menschen glauben, dass sich die Antwort darauf finden ließe, indem man beispielsweise Lebewesen beobachtet, die Fliegen können, und dann versucht, diese Lebewesen zu imitieren.

Die meisten Menschen kämen deshalb, wenn es um die Frage des Fliegens geht, mit allem möglichen Killefit daher, der letztlich nur vom Wesentlichen ablenkt: Flügel, Federn, Flattern und so weiter und so fort.

Wäre ja auch alles nicht ganz falsch – aber wäre es wirklich auch die essenzielle, absolut gültige Antwort? Die Eine, die alle Formen des Fliegens abdeckt? Die Antwort, die dann auch mir – männlich, menschlich, 1,86 Meter groß, 105 Kilogramm schwer – das Fliegen ermöglichen würde?

Nein, natürlich nicht.

Der „Schneider von Ulm“: Fataler Versuch, den Vogelflug zu imitieren. Copyright: Stadtarchiv Ulm

Wenn ich Federn und Flügel hätte, würde ich selbst dann nicht fliegen, wenn ich flattern würde wie ein Kolibri. Und nein, das liegt nicht nur an den 20 Kilogramm, die ich dringend mal verlieren müsste, um auf einen guten BMI zu kommen.

Es liegt daran, dass es mehr braucht als Federn, um aus einem 58-jährigen Westeuropäer einen Vogel zu machen. Man kann ja auch keinen Menschen in ein Meerjungfrauenkostüm stecken, in 200 Meter Tiefe aussetzen und sagen: jetzt atme!

Nein, die ultimative, zielführende Antwort auf die Frage, wie man Fliegen kann, egal, wie man gebaut ist oder aussieht, bekommt man, wenn man beobachtet, was ein Vogel tut, wenn er sich vom Boden trennt.

Und dabei geht es darum, nicht den Vogel zu imitieren, sondern das Resultat seiner Aktionen. Das ist eine der großen Fähigkeiten des Nerds: Während alle um ihn herum das Wesentliche nicht erkennen, sieht er nichts anderes. Wer aber diese Fähigkeit besitzt, erkennt sofort, wie man auch als Mensch ganz leicht und elegant fliegen könnte: Man wirft sich auf den Boden, aber daneben!

Um so etwas zu erkennen, braucht man allerdings auch Wissen.

Wissen beeinflusst ganz erheblich, aus welchen Zutaten und mit welchen Konsequenzen wir unsere ganz persönliche Realität stricken. Es wirkt also wie ein Filter auf die Wahrnehmung der Welt. Wenn auch nicht ganz so stark wie Nichtwissen.

Ich hatte beispielsweise vor einiger Zeit eine Begegnung mit einer Dame mittleren Alters, der ich erklärte, dass die Sonne, die über Spanien scheint, tatsächlich doch die gleiche ist wie unsere.

Das war eine Neuigkeit für sie.

Sie sagte: „Aber man sagt doch auch: Creme Dich gut ein, das ist eine ganz andere Sonne hier als zu Hause.“

Ja, antwortete ich.

Das stimmt.
Das sagt man so.
Man ahnt ja nicht, was man mit sowas anrichtet.

Ich hab‘ ihr das mit der Sonne dann erklärt. Sie wissen schon: Heißer Stern, um den herum wir uns im Laufe eines Jahres bewegen und so weiter. Das Wesentliche hat sie verstanden, aber so ganz überzeugt war sie dann doch nicht. Schließlich, sagte sie, sehe man ja, dass die Sonne sich bewegt und nicht wir.

Heliozentrisches Weltbild: sich drehende Planeten kreisen um die Sonne. Wissensstand von 1543, Nikolaus Kopernikus. Copyright: gemeinfrei

Ja, sagte ich, aber diese scheinbare Bewegung sähen wir doch nur deshalb, weil sich auch die Erde jeden Tag einmal um sich selbst drehe.

Sie fragte ungehalten: „Ja, wat denn nun? Die Sonne oder die Erde? Wat beweeescht sisch denn jezz?“

Ich darauf: Ja, beides. Unser Bälleken, auf dem wir leben, dreht sich, und dann fliegen wir auch noch um den anderen, brennenden Ball herum. Sie sah mich an, als wäre ich Balla-balla. Zuviel Drehungen. Da werde „einem ja janz schwindelisch“, sagte sie.

Ich sagte: Aber das müssen sie Euch doch in der Schule erklärt haben!

Sie darauf: Hä? Wat fürn Fach soll dat denn sein? Sonnenkunde?

Okay, dachte ich, okay.

Okay.
Ruhig bleiben.
Okay.

Deshalb gibt es ja uns Nerds.
Dafür ist unsereins ja da.
Damit nicht das ganze Weltwissen der letzten 10.000 Jahre unter Boahhh ey, Dolce und Gabana, Frauke Ludewig und der Galileo-Sondersendung „Geheimnisse der Tempelritter“ verschüttet wird.
Okay.

Ist ja auch irgendwie erhebend.

Wir Nerds sind die Bewahrer des Wissens.
Das Gedächtnis einer Gesellschaft, die sich im Jetzt verliert.
Die Konservatoren der kulturellen Werte.

Die Druiden des neuen Jahrtausends.

Hey, cool!

Prompt machte ich mir noch den druidischen Spaß, ihr zu erklären, dass man aus manchen Sonnencremes LSD destillieren kann.
Was ja nebenbei auch einiges erklärt.

Das fand sie viel interessanter als das mit der Sonne.
Sie hatte sogar ein paar Rückfragen: Ob man nur die aus Spanien nehmen könne oder auch die zu Hause gekaufte?

Beides, sagte ich, völlig egal.

Wo wir gerade drüber reden: Hätte ich ihr sagen sollen, dass der Direktkauf von LSD deutliche Preisvorteile birgt?

Ich weiß zwar nicht, wo der aktuelle Milligrammpreis für LSD liegt, aber an den Tonnenpreis für Sonnencreme dürfte er nicht herankommen. Man braucht aber bekanntlich rund 1000 Kilogramm Sonnencreme für ein paar Milligramm LSD. Kostet als gut duftende Markenware mit Schutzfaktor 50+ so um 310.000 Euro.

Also denken Sie nicht einmal dran.

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Dieser Text ist Teil eines noch unveröffentlichten, unvollendeten Manuskripts:

„Infoporn. Vom Nitwit zum Nerd in zehn Lektionen“.

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My Playlist XXIX: Fink

Fink ist eine Gruppe, die ich gern beim Schreiben höre: Die Musik ist tief und inspirierend, funktioniert aber auch leise, wenn ich mich selbst nicht ablenken will. Heute fiel mir auf, dass

a) mein Lieblingsalbum Perfect Darkness gerade sage und schreibe schon 10 Jahre alt geworden ist und

b) Fink noch in dieser Woche ein neues Album auf den Markt bringen werden: eine Art neu eingespieltes Best Of, dem sie den Titel „IIUII“ gegeben haben – „it isn’t until it is“.

Rein vom Typografischen her gedacht ist das der Stoff, aus dem die T-Shirts sind. Aber Spaß beiseite: Was ich an Fink liebe ist das Percusive: es gibt Songs, die komplett ohne Chords auskommen, in denen die Rythmusgitarre reduziert ist auf das Hammering einzelner Lautfolgen, und Sänger Finian Paul Greenall singt dagegen an. Das ist oft total relaxed und hat doch innere Spannung. Ich finde es echt schwer, davon nicht gefangen zu werden.

Live zeigt er, dass das kein Gimmick ist, sondern aus dem Gefühl heraus Stimmung macht:

„Perfect Darkness“ ist mein persönlicher Lieblingssong, weit bekannter ist allerdings das mesmerisierende „Warm Shadow“, das vielen Fans von „The Walking Dead“ im Ohr hängen blieb: Das Lied war der „End-Song“ der S3-E13-Folge „Arrow on the Doorpost“, die 2013 erstmals gezeigt wurde. Dass Fink danach als „die Gruppe, die einen Song bei Walking Dead hatten“ verbucht wurde, haben sie nicht verdient. Zum einen, weil einem ihre Musik überall begegnet, wo man sie nicht erwartet. Zum anderen, weil sie am stärksten ist, wenn sie für sich steht, man sie bewusst genießt. Man muss nicht laut sein, um Eindruck zu hinterlassen.

Kleiner Fun-Fact am Rande: Der Typ am Bass ist der Sohn von Roger Whittaker. Sachen gibt’s.

My Playlist XXVIII: Squid versus Stranglers

Vielleicht liegt das am Alter, vielleicht auch nur an der aktuellen Phase, in der Popmusik gerade steckt, aber es passiert immer seltener, dass mich eine neue Veröffentlichung sofort fängt. Bei Squid ist das anders. Ich habe nur ein paar Töne gebraucht und mein Kopf ging hoch wie bei einem Erdmännchen im Alarmzustand: Huch, dachte ich, das ist interessant!

Squid kommt zum einen dermaßen schräg angeschwappt und ist zugleich auf so eigentümliche Weise vertraut, dass mir jedes Lied ein großes Fragezeichen ins Hirn malt: „WTF“ würde man heute wohl sagen, „woher kenne ich das? Und kenne ich das wirklich?“

„GSK“ (höre oben), der erste echte Track des Debutalbums, klingt wie der junge Beck auf Amphetamin. Die im Grunde sanft schwingenden, von einem kreisenden Bass-Lauf untermalten Beats, eigentlich wie gemacht für eine chillige Nummer, halten Töne zusammen, die so krumm sind, dass sie für Stress sorgen. Dabei sind sie nur vordergründig disharmonisch: was die da ihren Instrumenten entlocken, ist ein gezielter, jazzig souveräner Bruch mit Hörgewohnheiten – immer knapp neben der Erwartung und deshalb eine Art kleiner Angriff auf unser Harmoniebedürfnis.

Wie die das machen? Mit winzigen Mitteln. Man höre nur mal darauf, was das kleine Schlagholz in den ersten 20 Sekunden des Songs veranstaltet: Auf den Teppich satter, maschinenhaft gleichförmiger Beats legt es ein asynchrones, offensichtlich analoges Klackern, das meist aber nur „falsch“ betont ist. Das ist, als säße man im Konzert neben jemandem, der immer leicht neben den Takt klatscht. Es hört sich an, als mache da jemand mit, der das nicht richtig kann. Live wäre das Gegenteil der Fall: Dermaßen konsequent „daneben“ zu liegen wäre großes Kino. Was Sekunden später auch für die Bläser und Saiteninstrumente gilt.

Das alles ist auf eigentümliche Weise neu, auch wenn es natürlich seine Wurzeln hat. Die meisten Rezensenten nennen das Postpunk, weil sich kein naheliegenderes Label aufdrängt. Ich bin da nicht so sicher, denn manches ist eher eine Art Anti-Punk: hoch artifiziell und voller Zitate.

Am deutlichsten ist noch das punkige Zitat des Gesangs: das erinnert zum Beispiel an frühe Nummern der Stranglers. Auch die wurden Ende der Siebziger mangels passender Schubladen als Punk verbucht, obwohl sie meist White-Reggae-Ska-Rock-Pop spielten – also einfach, was sie wollten.

„Peaches“ von 1977  war einer ihrer ersten großen Hits.

Stimmlich hätten die Sänger von Squid und Stranglers hier durchaus ein Duo aufmachen können, oder? Ich erkenne zwischen „GSK“ und „Peaches“ darüber hinaus jede Menge weiterer Parallelen – die Autoren „tickten“ ähnlich, spielen auf ähnliche Weise mit ihren Hörern.

Squid selbst verweisen auf jede Menge alter musikalischer Vorbilder, bis hin zur Elektronik-Urband „Neu!“, auf die auf dem Debutalbum der Band vor allem die immer wieder auftretenden Elektronik-Sequenzen verweisen, die Hintergrund und Ruhephasen liefern – die Neu!-typischen, elegischen Synthie-Teppiche sind hier aber nur beruhigende Versatzstücke vor dem nächsten Schrägton.

Insgesamt ist die Grundstimmung der ersten Squid-Scheibe „Bright Green Field“ eher düster und gebrochen, aber auf eine ironisch-witzige Weise.

Leichte Kost ist das nicht. Aber sehr, sehr cool.

Kreidler Florett: Meine Erste

Letzte Woche lief ich durch Trier, und was entdecke ich da als Deko im Schaufenster eines Friseurs? Eine Kreidler Florett, sehr nah dran an meinem ersten „Hobel“.

Copyright: F. Patalong

 

1979 stieg ich vom Mofa auf Mockick um, mit so einer Kreidler. Hatte mir ein Bergmann, der damit seit 1958 zur Arbeit gefahren war, für 50 Mark abgetreten. Sie war fünf Jahre älter als ich.

Wie die meisten Kreidler verstand auch meine die Geschwindigkeitsvorgabe von 40 km/h entweder nur als unverbindlichen Vorschlag oder als Meilenangabe: Die alte Karre zog locker 75 km/h, was mir allerdings keinerlei Respekt einbrachte. Denn erstens waren die Kreidler RMC, die viele meiner Freunde fuhren, erheblich schneller und zweitens auch erheblich schicker. Ich reagierte darauf mit Trotz und fuhr in der kälteren Jahreszeit mit einem langen, grauen Regenmantel – meine Kreidler und ich sahen dann so aus, als kämen wir schnurstracks aus den 50ern.

Doch die Charakterstärke hielt nicht an. Eine Saison und vier Wochen Ferienarbeit später saß dann auch ich auf einer RMC der Marke „fliegender Rasenmäher“. Dass ich die alte Kreidler verkaufte, hat mir der Bergmann nie verziehen. In Rückschau muss ich sagen: ich auch nicht, es war eine der dümmsten Entscheidungen meiner Jugend.