Süß: AfD distanziert sich von sich

Fake-News sind ein Phänomen, das mitunter auch denen auf die Füße fallen kann, die sonst selbst ein – sagen wir mal – entspannt-losgelöstes Verhältnis zur Realität haben. Zurzeit macht bei Facebook eine angebliche Wahlwerbung des AfD-Kreisverbandes „Nürnberg-Süd/Schwalbach“ die Runde, von der nicht ganz klar ist

– ob es diesen Kreisverband überhaupt gibt: die Strammrechten streiten selbst darüber

– und wenn, ob sie dann wirklich aus AfD-Kreisen kommt.

Gut möglich, dass das Plakat „Sophie Scholl würde AfD wählen“ (!!!) diesen Verfechtern eines Bio-deutschen Heimatlandes als Satire untergeschoben wurde. Klar, dass auf die Veröffentlichung eine Welle der Empörung folgte.

Und weil diese Nürnberger Lobby für eine alternative Realität so vielleicht zum ersten Mal selbst zu spüren bekommt, was für einen Schaden „postfaktische“ Behauptungen anrichten können, wandte sie sich nun „aus gegebenem Anlass“ an die Öffentlichkeit. Sie behauptet,  „dass wir als AfD Nürnberg-Schwabach mit der Facebookseite einer „AfD Nürnberg-Süd/Schwabach“ nichts zu tun haben“.

Das allein wäre kaum der Erwähnung wert, wenn es nicht höchst interessant weiterginge: Die AfD Nürnberg distanziert sich in ihrer Erklärung nämlich endlich auch von sich selbst.

Wörtlich steht da: „Des Weiteren distanzieren wir uns ausdrücklich von diesem völlig Geschmacklosen (sic!) Post.“

Zur Erinnerung: der lautete „Sophie Scholl würde AfD wählen“. Was natürlich totaler Blödsinn ist, denn Scholl wurde hingerichtet, weil sie es wagte, gegen Faschisten zu opponieren. Das weiß wider Erwarten sogar die AfD Nürnberg, weshalb ja klar ist, dass diese junge Frau niemals AfD gewählt hätte: Diese These, schreibt die AfD, „gibt zudem in keinster Weise die Meinung unseres Facebook Teams sowie des Vorstandes der AfD Nürnberg – Schwabach wieder. Er entspricht nicht unserem Anspruch und Grundsätzen.“

Mehr Ehrlichkeit war da noch nie. Mit einer Frau, die ihr Leben gab, um der dumpfbraunen Brut in Deutschland etwas entgegen zu setzen, wollen die nichts zu tun haben. Und natürlich wäre das auch umgekehrt so gewesen.

Lagerhaltung: Das Tier ist immer der Andere

Einer meiner ersten Aufträge als festangestellter Reporter führte mich in ein Auffanglager im Süden von Essen. Vordergründig war das ein luxuriöser, idyllischer Ort: Ein Tagungszentrum der evangelischen Kirche, mitten auf der grünen Wiese, weit weg von der Stadt. Den ganzen Tag sah man Menschen im Garten herumliegen oder durch die Haine und Felder rund um dieses große Haus spazieren.

Was hätten sie auch sonst tun sollen? Arbeiten durften sie nicht. Sie waren zum Warten verdammt: Innen gab es kleine Schlafsäle, in denen bis zu 14 gemeinsam untergebrachte junge Männer dicht an dicht und oft genug besoffen in Etagenbetten dämmerten. In anderen der „Mehrbettzimmer“ waren bis zu drei Familien gemeinsam untergebracht.

Glück hatten hingegen die, die eine der 18-Quadratmeter-Kammern abbekommen hatten, in denen man bis zu fünfköpfige Familien unterbrachte. Eine davon habe ich interviewt: Die Eltern beide Ingenieure, die Kinder jung und still. Sie hatten Übung darin, in der Enge nicht aufzufallen – sie lebten dort schon seit zwei Jahren.

Ruhelos waren eher die Eltern, aus Angst. Denn gelandet war ich, der Reporter, in diesem Wohn-Provisorium ja nicht, weil die Mindestquadratmeterzahl für die Haltung desillusionierter Ingenieure unterschritten worden war. Ich war gekommen, um mit den Leuten über die Nächte zu sprechen. Wenn die Lichter ausgingen und sie ihre Tür verbarrikadierten.

Denn Nachts, wenn Alkohol und Testosteron und Monate des Wartens die Luft in den Schlafsälen der jungen Männer zu einer unheilvollen Suppe verdichteten, gingen manche von ihnen auf die Jagd: Sie hetzten und verprügelten die „Tiere“, mit denen sie nicht zusammenleben wollten. Mit denen sie angeblich nichts gemein hatten, nichts teilten außer ihrer Situation. Die zur Enge beitrugen, die Ressourcen verknappten, die Behörden beschäftigten, die Wartezeiten durch ihre schiere Anwesenheit verlängerten. Für die Jäger war klar: Diese Anderen waren Teil ihres Problems.

Das war natürlich im Frühsommer 1990, und die „Tiere“ waren Übersiedler aus Kasachstan, Russland und Polen.

Und die Jäger? Die waren das Volk.

Menschen auf engem Raum einzupferchen, ist nie eine gute Idee. Wer es tut, schafft Probleme.

Die Post ist da: Nimm! Mich! Wahr!

Timo Steppat hat am Montag bei FAZ.net einen schönen Artikel über einen Forentroll veröffentlicht. Ein interessantes Porträt unserer lautstarken, engagierten Internet-Meinungsführer.

Mitunter fragt man sich, was mit solchen Leuten nicht stimmt, aber man hat auch gelernt, mit diesem Mist zu leben. Viel schlimmer finde ich eine andere Spezies, die es in der Zeit, bevor E-Mail für jedermann nutzbar wurde, nicht gegeben hat: Leserbriefschreiber, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, uns „entrückten“ Journalisten mit Perspektiven aus dem echten Leben zu versorgen.
Oder dem
Rechten.

Viele Journalisten im Lande kennen beispielsweise den ganz besonders fleißigen Rudolf (seinen echten Namen lassen wir hier mal weg). Seit etlichen Jahren schreibt er Kommentare und Briefe und verschickt Links zu aus seiner Sicht interessanten Artikeln, um Journalisten und Politiker auf Themen aufmerksam zu machen, wie er immer wieder betont. Meistens geht es bei ihm um den Islam oder gegen Ausländer aus bestimmten Ländern. Seine Quellen reichen von rechtsextremen Blogs bis zu ganz normalen Massenmedien.

Letzteres ist perfide, weil es ihm Glaubwürdigkeit verleiht: Wer ihn nicht kennt, nimmt oft nicht sofort wahr, aus welcher Ecke Rudolf kommt. Es ist die Auswahl der Themen und ihr steter Strom, der Einfluss nehmen soll. Rudolf agiert nach der Devise, dass man etwas nur oft genug behaupten muss, damit etwas davon kleben bleibt.

Viele Links, die er uns schickt, beziehen sich auf Regionen, in denen gerade Chaos herrscht oder wo irgendwelche Untaten begangen wurden. Oder es geht um Straftaten, hierzulande von Ausländern begangen (Einsperren! Ausweisen! Grenzen dicht und aussperren!).

Es sind Mails, die uns etwas lehren wollen: Die da sind weniger wert als wir, teilt uns Leserbrief-Rudolf mit. Und ihr berichtet über die, als seien das Menschen?

Rudolf, begreift man sehr schnell, ist aus tiefster Überzeugung Rassist. Es bestimmt sein Bild von der Welt und prägt und verzerrt seine Wahrnehmung. Seine Wut kommt aus der Empörung darüber, dass wir Journalisten die Welt nicht so wahrzunehmen scheinen wie er. Für ihn sind wir von raubenden und mordenden, minderwertigen Wesen mit gefährlichen Ideologien umgeben, die man doch ganz leicht erkennen könne: An der Farbe ihrer Haut und ihrer Haare, an ihren Sprachen und Bauwerken, an ihren Namen und ihrer Kleidung, an ihrer Fremdheit.

Vor eineinhalb Jahren habe ich Kollegen per Rundmail angeschrieben und wollte wissen, wer von Rudolf gehört habe und von ihm Post bekommt. Es waren viele. Seine Mails gehen an zahlreiche Journalisten, aber auch an Politiker.

Ich begann zu recherchieren. Ich fand heraus, wo er lebt: Ein ruhiges Örtchen im bergigen Süden, reiche Gegend, vorstädtische Wohnlage, Siedlungshäuschen der Fünfziger, gepflegte Vorgärten. Ich fand heraus, wie alt er ist. Ich versuchte herauszufinden, ob er mit irgendeiner rechtsradikalen Partei assoziiert ist.

Ist er nicht.

Rudolf ist ein vermeintlich ganz normaler Mensch Anfang 60, wahrscheinlich Frührentner. Er lebt mit einer engen Verwandten in einem kleinen Häuschen, ist Mitglied in keinem Verein und geht offenbar auch keiner Tätigkeit mehr nach. Außer, Leserbriefe zu schreiben.

Und zwar viele. Manchmal kommen zwei oder drei am Tag, es können aber auch mal 25 und mehr werden. Vor ein paar Wochen kamen einmal über 30 Briefe an einem einzigen Sonntag. Manchmal ist auch wochenlang Ruhe (Urlaub? Kur? Er wird doch hoffentlich nicht krank sein?). Und dann geht es wieder los, mit neuer Kraft und umso heftiger.

Im März 2013 begann ich, die Dinger zu sammeln. Ich wollte wissen, wie lange es dauern würde, bis 2000 zusammen kämen. Im November war es soweit: 2000 Mails in rund 240 Tagen. Macht im statistischen Schnitt rund acht Zuschriften am Tag.

Erst habe ich geglaubt, Rudolf sei ein rechter Lobbyist. Er ist ja nur einer von mehreren Rudolfs, die mich mit der rechten Weltsicht versorgen: Die Zahl der geistigen Brandstifter und potentiell gefährlichen Spinner ist erschreckend.

Inzwischen halte ich Rudolf nicht mehr für einen Akteur. Er ist kein Täter, sondern schlicht ein Opfer seiner eigenen, verzerrten Weltsicht. Die vergiftet ihn ganz offensichtlich, füllt ihn mit Abscheu und Hass und Wut. Meiner Meinung nach ist er vor allem sehr, sehr einsam, wenn nicht sogar krank im psychopathologischen Sinn. Wahnsinn ist eine höchst deskriptive Vokabel: Sie beschreibt die wahnhafte Verzerrung sinnlicher Wahrnehmung. Im Klartext: Da stimmt was nicht mit der Wahrnehmung der Realität, was zu Grütze im Kopf führt. Klingt passend.

Die Vorstellung, in acht Monaten 2000 Briefe in ein digitales Nirvana zu schicken, aus dem als Antwort allenfalls ab und zu einmal ein „Hören Sie doch bitte auf damit!“ schallt, ist jedenfalls gruselig. Wie viel Zeit muss man investieren, um zwei, drei, 15 oder 25 Mails am Tag zu verfassen und zu verschicken? 

Man muss sich das einmal vorstellen. Wie Rudolf nach Themen sucht, nach negativen Nachrichten, nach Bestätigungen für seinen Hass. Den ganzen Tag. Und dann fünf, zehn, zwanzig Leserbriefe schreibt und verschickt. Immer ohne Antwort. 

Rudolf, was ist ein guter Tag für Dich? Gehst Du zufrieden zu Bett, wenn Du 30mal Hass verschickt hast? Was für ein verschwendetes Leben!

Du könntest stattdessen spazieren gehen oder kegeln, Du könntest lernen, wie man Aquarelle malt oder Bud-Spencer-Filme sehen, wenn das eher Dein Ding ist. Du könntest Menschen treffen, mit ihnen reden, Ihr könntet Karten spielen, Witze reißen oder gemeinsam Essen gehen: Deutsch, aber auch chinesisch, indisch oder türkisch. Hast Du schon mal persisches Rosen-Eis probiert, Rudolf? Dich durch Kokos und Curry zu unbekannten Gewürzen auf unerkannten Gemüsesorten durchgeschmeckt, die Dir der dunkelhäutige Kellner bestimmt gern, stolz und lustig erklären wird?

Wahrscheinlich nicht. Ich fürchte, die Rudolfs dieser Welt suchen keine Aha-Erlebnisse.

Ich habe Deine 2000 Mails am Ende ungelesen gelöscht, Rudolf, tut mir leid. Und ich habe Dich inzwischen in zig Varianten im Spamfilter verewigt. Es wirkt, das Ding hält dicht. Wenn man so will, ist mein Mailsystem auf Deine Mails optimiert. Möglich, dass Dich das sogar freut, denn das wolltest Du doch: Wahrgenommen werden.

Rudolf, lass Dir helfen.