Lagerhaltung: Das Tier ist immer der Andere

Einer meiner ersten Aufträge als festangestellter Reporter führte mich in ein Auffanglager im Süden von Essen. Vordergründig war das ein luxuriöser, idyllischer Ort: Ein Tagungszentrum der evangelischen Kirche, mitten auf der grünen Wiese, weit weg von der Stadt. Den ganzen Tag sah man Menschen im Garten herumliegen oder durch die Haine und Felder rund um dieses große Haus spazieren.

Was hätten sie auch sonst tun sollen? Arbeiten durften sie nicht. Sie waren zum Warten verdammt: Innen gab es kleine Schlafsäle, in denen bis zu 14 gemeinsam untergebrachte junge Männer dicht an dicht und oft genug besoffen in Etagenbetten dämmerten. In anderen der „Mehrbettzimmer“ waren bis zu drei Familien gemeinsam untergebracht.

Glück hatten hingegen die, die eine der 18-Quadratmeter-Kammern abbekommen hatten, in denen man bis zu fünfköpfige Familien unterbrachte. Eine davon habe ich interviewt: Die Eltern beide Ingenieure, die Kinder jung und still. Sie hatten Übung darin, in der Enge nicht aufzufallen – sie lebten dort schon seit zwei Jahren.

Ruhelos waren eher die Eltern, aus Angst. Denn gelandet war ich, der Reporter, in diesem Wohn-Provisorium ja nicht, weil die Mindestquadratmeterzahl für die Haltung desillusionierter Ingenieure unterschritten worden war. Ich war gekommen, um mit den Leuten über die Nächte zu sprechen. Wenn die Lichter ausgingen und sie ihre Tür verbarrikadierten.

Denn Nachts, wenn Alkohol und Testosteron und Monate des Wartens die Luft in den Schlafsälen der jungen Männer zu einer unheilvollen Suppe verdichteten, gingen manche von ihnen auf die Jagd: Sie hetzten und verprügelten die „Tiere“, mit denen sie nicht zusammenleben wollten. Mit denen sie angeblich nichts gemein hatten, nichts teilten außer ihrer Situation. Die zur Enge beitrugen, die Ressourcen verknappten, die Behörden beschäftigten, die Wartezeiten durch ihre schiere Anwesenheit verlängerten. Für die Jäger war klar: Diese Anderen waren Teil ihres Problems.

Das war natürlich im Frühsommer 1990, und die „Tiere“ waren Übersiedler aus Kasachstan, Russland und Polen.

Und die Jäger? Die waren das Volk.

Menschen auf engem Raum einzupferchen, ist nie eine gute Idee. Wer es tut, schafft Probleme.