San Francisco 1906: Wer braucht schon Regeln?

Der hier gezeigte Streifen ist keineswegs, wie es bei Youtube fälschlich heißt, der erste 35mm-Film, der je gedreht wurde. Aber er ist ein frühes, eindrucksvolles Dokument, dass man Verkehrsprobleme auch mit totaler Anarchie lösen kann.

Der Film entstand mit Hilfe einer tragbaren 35mm-Kamera, die man auf einen elektrischen Straßenbahnwagen montiert hatte. Ein bemerkenswerter Blick in einen längst vergangenen Alltagsverkehr: Was heute amüsiert, ist die völlige Regellosigkeit. Alles und jeder läuft, reitet, fährt, kreuzt, biegt ab, überholt oder hält an wie er gerade Lust, Laune und Überlebenschancen hat oder sieht. Verkehrszeichen sucht man vergeblich, Fahrbahnmarkierungen ebenso – aber es scheint sich auch niemand aufzuregen. Alles wirkt ganz relaxed in diesem gemächlich fließenden Verkehrschaos. Das Tohuwabohu in der Temp-15-Zone überstanden auch Fußgänger offensichtlich meist unbeschadet, und einer der schnellsten Verkehrsteilnehmer ist der dreiste Radfahrer, der die Straßenbahn gleich mehrmals rechts überholt und sich dann keck davor setzt. Kann man so machen.

Die meisten Automobile in diesen Bildern dürften noch entweder Elektrofahrzeuge oder Dampfwagen gewesen sein. Benzinfahrzeuge wurden in den USA ja erst ab 1903 langsam populärer, vorher war Sprit einfach nicht verfügbar genug.

Wenn man diese Bilder sieht, kann man sich auch das oft zitierte Ende von Henry Bliss bildlich vorstellen. 1899 wurde der in New York zum ersten dokumentierten Auto-Verkehrstoten der USA, als er einer elektrischen Straßenbahn entsteigend von einem Taxi mit Elektromotor erfasst und überfahren wurde. Inmitten eines solchen Verkehrschaos mit zischenden Dampfwagen, nur vereinzelten knatternden Benzinkutschen und auf Kopfsteinpflaster klappernden Pferdehufen war das Elektroauto für ihn ein quasi lautloser Killer.

Völlig Regellos war natürlich auch das Chaos im Straßenverkehr von San Francisco 1906 nicht mehr. Erste Gesetze, Vorschriften und Zeichen, die den Straßenverkehr regelten, sind schon aus der Antike bekannt. Im 19. Jahrhundert wuchs mit der Motorisierung die Notwendigkeit zur Regulierung: In England gab es mit dem ‚Locomotive Act‘ von 1865 ein Gesetz, das es zeitweilig vorschrieb, dass Autos (damals natürlich Dampfautos) über Land nicht schneller als 6 km/h und innerorts höchstens 3 km/h „schnell“ reisen durften. Darüber hinaus musste ein Junge mit einer roten Fahne rund 55 Meter vorweg gehen und die Passanten warnen. Das Gesetz brachte den ersten Auto-Boom im Sinne des Wortes fast zum Stillstand, erst 1896 wurde der Schwachsinn wieder abgeschafft.

Etwa zu der Zeit begann man auch grenzüberschreitend über vereinheitlichte Verkehrsregeln und Schilder zu debattieren. 1895 preschten italienische Autonarren vor und schufen eigene Verkehrszeichen. 1900 begann in Paris die formelle internationale Debatte darüber, die schon neun Jahre später mit einem in Rom unterzeichneten Abkommen über vier international einheitliche Verkehrsschilder-Designs erste Frucht trug. „Schon“ ist hier deshalb der passende Ausdruck, weil es keineswegs in ähnlichem Tempo weiterging. Zu einem internationalen Abkommen, das sowohl die Verkehrsregeln, als auch die eingesetzten Signale und Schilder weitgehend harmonisierte, kam es erst mit dem Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr – im November 1968.

P.S.: Den 35mm-Film hatte William Dickson im Auftrag von Thomas Alva Edison schon 1893 entwickelt. Weil Edison, fraglos der versierteste Patent-Gewinnler seiner Zeit, in diesem Fall patzte, ein Patent in Europa verpennte und sein US-Patent verlor, wurden die 35mm schnell zum Standardformat für die professionelle Filmproduktion. Wegen der sehr schlechten Material-Haltbarkeit und der Silbergewinnung aus dem Recycling von Filmrollen gibt es aber nur noch sehr wenige Filme des hier gezeigten Alters.

Monster: keine Qualitätsfrage

Als ich aufwuchs, gab es in Walsum noch ein kleines Kino, in dem es Sonntagsmorgens um 10 Uhr eine Kindervorstellung gab. Keine falschen Schlüsse jetzt, wir reden über 1971, die gezeigten Filme waren selten fit für ein „besonders wertvoll“: Kung-Fu-Streifen waren gerade in, Bud Spencer und – natürlich – Godzilla, Gamera und Co. Prägende Erlebnisse.

Noch heute mag ich meine Filme entweder besonderns gut oder aber ganz besonders schlecht. Ein Schinken, der mich besonders beeindruckte, war „Guila, Frankensteins Teufelsei“. Noch bescheuerter als der Titel war der Film selbst, ein absoluter Tiefpunkt (oder Höhepunkt, je nachdem, wie man es sieht) des japanischen Monsterfilms. Unter Fans firmiert diese Untat als „Das Hühnchen aus dem All“. Rund 30 Jahre gab es in Deutschland keine offizielle Kopie mehr zu kaufen, ich selbst habe vor einigen Jahren eine japanische Version mit englischen Untertiteln erstanden. Kein Problem, selbst wenn man nicht mit liest: Es ist nicht so, dass man viel verpassen würde.

Außer Guila, international manchmal auch Guilala genannt: Ein Monstrum mit Fühlern, an deren Enden Tennisbälle wippen. Geschlüpft aus einem glühenden Ei, das fliegen kann und seine Karriere als Schleim-Absonderung beginnt, die eine US-japanische Raumcrew von ihrem Raumschiff kratzt. Eine coole Bestie, die so unbeholfen durch die Gegend torkelt, das man hingehen und sie am Arm führen möchte: In einer Schlüsselszene ist zu sehen, wie der Kerl in dem Gummikostüm fast hintenüber kippt. Selten so gelacht.

Diese Art Kino ist das absolute Gegenteil von perfekt. Gerade das macht es erst witzig. Die besten Monster der Filmgeschichte sind die schlechtesten.

P.S.: Inzwischen gibt es wieder eine offizielle, qualitativ gute Kopie von Guila. Sie ist allerdings sündhaft teuer. Nur was für Fans. Die deutschsprachige DVD, die bei Ebay kursiert, ist eine von einer VHS-Kassette gezogene Kopie stellenweise sehr mieser Qualität – ein Bootleg.

Avatar, Avengers und Co.: Zum Glück schön schlecht

Es gibt eine ganze Menge Leute, die halten es für ein Qualitätsmerkmal, wenn ein Film schlechte Kritiken bekommt. Dazu gehört nicht nur der bekannte Till-Schweiger-Darsteller Till Schweiger (plant wahrscheinlich gerade „Sechsbeinwelpen“ und „Neunschwanzkatzen“), so denken massenhaft ganz normale Menschen.

Mein Freund Thomas ist so einer. Er hält Avatar für einen wirklich guten Film, und im ernst fällt es mir schwer, darüber zu streiten. Ich weiß, was er meint. Wenn ich allerdings als Journalist eine Kritik über Avatar verfassen würde, fiele die wohl reichlich durchwachsen aus. Denn in Sachen Handlung ist da ja nicht viel, was wir nicht schon in Disneys Pocahontas gesehen hätten, nur halt in Blau und 3D. Als Kritiker schreibt man da: „Action kann eine echte Handlung nicht ersetzen.“ Und Abziehbilder keine Personen.

Als Kinogänger weiß ich, dass das natürlich nicht ganz stimmt. Avatar ist, so wie nun Marvels Avengers, kein Film im cineastischen Sinne. Solche Filme sind Pop. Wir bierersten Deutschen vergessen das manchmal: Die Deaktivierung des Hirns fördert in solchen Fällen den Spaß an der Sache – so wie auf der Achterbahn. Eigentlich brauchen solche Blockbuster also eine eigene Kategorie, um angemessene Kritik ernten zu können. So wie man Oper nicht mit Rummelplatz vergleicht, sollte man aufhören, Avatar und Co. mit den Maßstäben des Kunstfilms zu bewerten.

Bei IMDB erntet Avengers gerade Top-Bewertungen. Ich werde mir die Kiste auch ansehen, ohne davon mehr zu erwarten als Spaß. Am besten jede Menge.

Die Handlung kenne ich ja jetzt schon, ohne Zusammenfassungen lesen zu müssen. Heldengeschichten sind Archetypen, die nur wenige Varianten haben. Treffen mehrere Helden aufeinander, dürfen wir erst den Clash der Alphatierchen erwarten, dann die interne krisenhafte Konfrontation, dann die übermächtige äußere Bedrohung, dann die große Solidarisierung und den Sieg im gemeinschaftlichen Kampf gegen den gemeinsamen Gegner. Was sonst?

Es ist genau das, was wir im Popcorn-und-Pilsken-Modus sehen wollen. Es ist ein Spektakel, gute Unterhaltung, „a good show“, wie der Angelsachse sagt. Cool. Mehr muss so was auch nicht sein.

Als Kritiker legt man andere Qualitätsmaßstäbe an einen Film. Man fragt sich: Sind außergewöhnliche Leistungen zu sehen? Schauspielerische, erzählerische, ästhetische? Entwickeln sich die Figuren, haben sie Tiefe, sind sie glaubhaft? Berührt die Geschichte, wirkt sie nach? Bei den meisten Blockbustern führt das zu einem Nullbefund, weil es einfach die falschen Maßstäbe sind.

Und dann wird die schlechte Kritik mitunter wirklich zum Qualitätsmerkmal. Zeit fürs Popcorn, war eine emsige Woche.

Meine Filme: Sci-Fi

Science Fiction ist ein Genre, das für mich zweierlei bedeutet: Entweder pure, Popcorn-kompatible Entspannung, oder anregende, die Phantasie beflügelnde Unterhaltung. Es ist das Genre, das am weitesten mit den Mustern des Gewohnten bricht. Film fußt auf Theater, aber Sci-Fi bereitet dem eine Bühne, wie es sie ohne Film nie geben könnte. Gute Science Fiction nutzt die, um darauf gewagte Geschichten zu erzählen. Dem literarischen Genre folgend sind einige der besten davon Utopien des Wünschenswerten, andere düstere Mahnungen. Filme wie Star Wars gehen mir dagegen am Hintern vorbei: Das sind Western mit Strahlen-Revolvern, nicht mehr. Langweilig.

Nicht langweilig finde ich Filme, die es wagen, die Realität zu verbiegen, spannende Geschichten in gewagter Weise zu erzählen. Ein paar Beispiele in alphabetischer Reihenfolge.

12 Monkeys. Bruce Willis ist jetzt vielleicht nicht gerade ein Charakterschauspieler, aber hier muss er ja auch vor allem verstört und gequält gucken – und das kriegt er ganz prächtig hin. Spitze ist daneben Brad Pitt in einer seiner zahlreichen Idioten- und Soziopathen-Rollen: Der Schwiegermuttertraum hat es drauf wie nur wenige, geistig minderbemittelte oder gestörte Charaktere mit irritierenden Ticks auf die Leinwand zu bringen. Auch hier beweist er eindrucksvoll, dass er nicht nur die Haare schön hat, sondern wirklich ein Schauspieler ist.

2001. Stanley Kubricks Kammerspiel im interplanetaren Raum hat ein Erzähltempo, mit dem man heutige Teens ganz bequem paralysieren kann und eine Handlung, die sich in zwei Sätzen zusammenfassen lässt. Mehr braucht man auch nicht, wenn man weiß, wie man trotzdem einen höchst intensiven Spannungsbogen spinnt, obwohl man als „Bösewicht“ nur eine Art rot erleuchtetes Goldfischglas zur Verfügung hat. Aus heutiger Sicht eine Antiklimax ist allerdings die berühmt-berüchtigte Schlusssequenz: Seit LSD nicht mehr zu den Grunderfahrungen der cineastisch interessierten Zielgruppe gehört, scheinen uns einige psychodelische Möglichkeiten weitgehend anhanden gekommen zu sein. „Dave? Dave! Dave?“

Alien. Ich bin kein Freund von Horrorfilmen, aber der erste Teil der Alien-Saga ist ein Meisterwerk. Purer psychologischer Horror, der über die meiste Zeit ohne drastische Effekte auskommt. Ridley Scott wusste, dass nichts mehr Angst macht, als das, was man nicht sieht. Die Folgeteile setzten dann mal mehr, mal weniger auf Gemetzel, keiner kam mehr an das Original heran.

Blade Runner. Diesen Klassiker gibt es in etlichen Schnittfassungen. Eigentlich ist das Ding so etwas wie ein Western: Kopfgeldjäger jagt Ausbrecher. Was den Film zu etwas besonderem macht, ist die Gebrochenheit seiner Figuren und die Grundsätzlichkeit der Frage, die er aufwirft: Was ist ein Mensch? Der eigentliche Star ist nicht Harrison Ford in seiner besten Rolle, sondern die Welt, in der Blade Runner spielt: Diese Metropolis, in der man Multikulti spricht, in der es ständig regnet, in der der Schmutz im Rinnstein steht, vermeint man nach einer Weile sogar riechen zu können. So traurig das ist: so könnte urbane Zukunft wirklich aussehen, wenn es schlecht läuft.

Dark City. Ein Film, der finanziell ziemlich untergegangen ist, was er nicht verdient: Die surreal-düstere Detektivgeschichte fesselt mit visuell gewagten Sets und einer Erzählweise, die an Jeunet und Terry Gilliam erinnert. Intelligentes Popcorn-Kino für Erwachsene, die bereit sind, ihren Kopf aktiviert zu halten. Man kann sich einen Sport daraus machen, die zahlreichen Zitate aus Philosophie und Kultur zu finden, die in diesem schrägen Werk vergraben wurden.

Delicatessen. Eigentlich ein surreales Kammerstück, halb Komödie, halb Farce. Für Comic-Schöpfer Jean-Pierre Jeunet (Wunderbare Welt der Amelie, Stadt der verlorenen Kinder, aber auch Alien, die Wiedergeburt) der Beginn einer anhaltend erfolgreichen Filmkarriere. Dominique Pinion als zur Malzeit auserkorener Neumieter ist brillant. Auch so können, ja müssen Helden aussehen!

Donnie Darko. Für mich ein Film, in dem ich immer das Gefühl habe, ich würde vornüberfallen. Da steckt ein latenter kleiner Wahnsinn drin, eine bohrende Drohung. Die Art und Weise, wie der Film dann doch nicht zum Horrorfilm wird, sondern zu einem bittersüßen, höchst ambivalenten Ende findet, hätte Autor und Regisseur Richard Kelly sowie Hauptdarsteller Jake Gyllenhaal eigentlich eine Flut von Preisen einbringen müssen. Was soll’s: So mancher Oscar-Schinken ist schnell vergessen – aber Kultfilme haben lange Halbwertszeiten.

Inception. Eigentlich eine Art Heist-Movie wie Oceans Eleven, aber in einem Sci-Fi-Ambiente. Enorm spannend – und visuell ein Rausch!

Soylent Green. Eigentlich sollte man keinen Film mit Charlton Heston mehr empfehlen. Der ultrarechte Waffenlobbyist hat jeden Respekt verspielt. In Soylent Green aber ist er gut. Der Film war 1973 ein Durchbruch: so eine Dystopie hatte man im Kino noch nicht gesehen.

Vanilla Sky. Nach dem so deprimierenden wie genialischen Magnolia der beste Film des unsäglichen Tom Cruise. Dieser Film ist wie so oft die abgekupferte Version eines bahnbrechenden europäischen Films, nachgefilmt, weil das US-Publikum halt US-Stars vorzieht, aber trotzdem gut. Wie hier Traum und Wirklichkeit verwischen, ist schlicht spannend.