
Der Suffragetten-Artikel, der am Samstag bei Einestages erschien, war eine Auftragsarbeit. Gedacht war der Artikel eigentlich für den 19. Februar, den 100. Jahrestag des vergeblichen Versuches, das Haus des damaligen Schatzkanzlers und späteren Premierministers David Lloyd George in die Luft zu jagen. Mitte Februar kam das Thema dann unter die Hufen der Aktualia, wurde quasi von der Soutane verweht.
Jetzt also ohne 100. Jahrestag. Ich mag solche Aufträge, weil sie mit Lernerlebnissen verbunden sind. Über Suffragetten hatte sich mir ein Wort ins Gedächtnis eingebrannt, das einer meiner Onkel immer benutzte: „Korsett-Verbrennerinnen“. Eine diskrimierende und diskreditierende Verniedlichung. Suffragetten kämpften nicht darum, einengende Kleidung loszuwerden, sondern um die Durchsetzung eines Menschenrechts.
Obwohl ich im Laufe der Jahre immer wieder einmal etwas über die auch radikalen Anfänge der Frauenbewegung in Großbritannien gelesen hatte, prägte der Begriff meine Vorstellung: Unter Suffretten stellte ich mir dunkel gekleidete, letztlich sittsam auftretende Frauen aus tendentiell eher gebildeten Schichten vor, die mit den Methoden der Demonstration auf ihr Anliegen aufmerksam machten. Die Vorstellung, dass sie zu ihrer Zeit belächelt wurden, ist dabei nicht ganz falsch. Genau das führte am Ende zur Eskalation des Protestes.
Ich war überrascht, wie hart der Konflikt ums Frauenwahlrecht am Ende, in den eineinhalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, geführt wurde. Vieles floss da ineinander, was nicht unbedingt zusammen gehörte. Die Bewegungen der Sozialdemokratie, bolschewistische Umsturzpläne, radikaler Feminismus, vor allem aber eine tiefe Frustration über rund 80 Jahre friedliche Forderungen und Proteste mündeten ab 1905 und bis 1914 in eine sich stetig radikalisierende Kampagne. Ihre Mittel: Flashmobs und Sachbeschädigungen, Brandbomben, Hungerstreiks und sogar ein demonstrativer Freitod. Der Staat antwortete mit Gewalt und Verhaftungswellen – und mit perfiden Tricks, um die Frauen dazu zu bringen, sich bis an den Rand der totalen Erschöpfung zu hungern.

Auf dem Höhepunkt bezeichnete Emmeline Pankhurst, eine der Vordenkerinnen der Suffragetten, das alles als „Bürgerkrieg“ der Frauen gegen das Patriachat. Wenn man sich die Quellen ansieht, scheint das kaum übertrieben. Pankhursts Tochter Christabel hatte sich zu dem Zeitpunkt nach Frankreich abgesetzt, um von dort die Gewalt-Kampagne koordinieren zu können, ohne verhaftet zu werden. Die Grenze zum Terrorismus war zu diesem Zeitpunkt nach heutigem Verständnis in etlichen Fällen wohl klar überschritten.
Mich hat das wirklich überrascht. Der Zweite Weltkrieg und die folgende, die Weltsicht über Jahrzehnte prägende Konstellation des Kalten Krieges haben zumindest bei mir den Blick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lange überschattet. Was natürlich auch am Geschichtsunterricht liegt, in dem die Phase von 1850 bis 1930 sträflich vernachlässigt wird. Egal, wo man da hinsieht: Es ist offensichtlich, dass man dabei etwas verpasst.