Werkstattbericht (III): Der Dampfer legt ab

Bücher sind wie Wiedergänger. Man recherchiert, schreibt, korrigiert, verabschiedet sich von ihnen. Und dann stellt sich heraus, dass immer noch was fehlt. Weil Text, Bilder und Seitenzahlen nicht so recht zueinander passen wollen, kommen sie zurück. Man kürzt oder schreibt noch was dazu, liefert zusätzliche Bilder. Dann noch schnell Bildunterzeilen, worauf verlagsseitig das Register erstellt wird. Erst wenn die Seitenzahlen stehen, kann man auch das Abbildungsverzerzeichnis erstellen, was mich gerade mein komplettes Wochenenende gekostet hat und den heutigen Nachmittag und Abend kosten wird. Buchschreiben ist mit Familienleben überrascht schlecht kompatibel.

Heute Abend irgendwann gehen die letzten Daten für den Viktorianischen Vibrator dann ab Richtung Verlag, und von dort baldmöglichst Richtung Satz und Druck. Damit kommt für mich endlich ein Prozess von wanderdünenhafter Langsamkeit zu Ende (hoffe ich): Wenn die E-Mail rausgeht, sehe ich das Ding wohl erst wieder, wenn es gedruckt und gebunden ist. Angesagt ist es für Anfang Oktober, mit Glück ist es ein bisschen früher da. Es wird dann 288 Seiten haben und nicht wie verlagsseitig angekündigt 272.

Schön schräg: das erinnert ein bisschen an „52 Zentimeter und 3780 Gramm“, und es fühlt sich auch ein bisschen so an. Im Vergleich zur Arbeit im aktuellen Journalismus ist das alles eine schwere Geburt. So richtig vergleichbar ist es allerdings auch nicht: Bei Büchern weiß man nie mit absoluter Sicherheit, ob man jetzt wirklich endlich und endgültig entbunden hat.

Strom ist gesund: Oma im Käfig

Was ist das, ist man mitunter geneigt zu fragen: Ein Oma-Grill (siehe unten)? Mitnichten: Die Anfänge der Elektrotherapie produzierten diese prächtigen Bilder, die heute wie Realsatire erscheinen. Viele dieser Maschinen sind Paradebeispiele für den mächtigen Placebo-Wert aufwändiger Medizingeräte.

Vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hielt sich hartnäckig die Mär, Strom sei mit der mysteriösen Energie gleichzusetzen, die dem Mensch das Leben gibt. Nach Entdeckung des „galvanischen“ Stroms versuchte man rund 40 Jahre lang, Leichen durch Schocktherapien wieder zu wecken. So ganz klappte das bekanntlich nicht, dafür entdeckte man auf dem Weg einige andere Möglichkeiten, Elektrizität zum Wohle lebender Patienten in deren Körper zu bekommen.

Die Bilder der abgefahrensten Maschinen, die man sich dafür ausdachte, begegnen uns im Web immer wieder. Hier sind zwei, die fast exemplarisch sind.

Sie stammen aus dem Versandkatalog „Hochfrequenz-Therapie: Arsonvalisation – Fulguration“ der Firma Reiniger, Gebbert und Schall, 1886 gegründet und 1925 von Siemens & Halske übernommen. Der nicht datierte Katalog stammt wahrscheinlich aus dem Jahre 1909 oder 1910.

Die erste Maschine (Klick aufs Bild für Großversion) erklärt sich quasi selbst. Der Patient sitzt und hält einen Kontakt, der ihn mit der nicht gerade zierlichen Stromquelle im Hintergrund verbindet (das Ding in der Mitte ist die Batterie, eine „Leydener Flasche“, rechts und links stehen nur Spulen). Der Mediziner hält den anderen Kontakt und verabreicht dem Patienten vermeintlich heilsame Stromstöße. Der Katalog erklärt, dass bei dieser Behandlung „keine Schmerzen“ entstünden, der Mediziner zudem die Intensität und Tiefe der Behandlung einfach über den Abstand zur Haut des Patienten regulieren könne. Das hört man doch gern. Bei einem bestimmten Abstand gingen die Stromstöße dabei in „Büschelentladungen“ über. Das prickelt und wärmt!

Erheblich erklärungsbedürftiger ist die zweite Maschine, die ein wenig nach Oma-Grill aussieht. Ich habe hier die Erklärungen des Katalogs nicht abgeschnitten, weil allein die schon eine Menge erzählen.

Es gibt sehr viele dieser martialischen Konstruktionen, die heute lustig wirken und immer wieder in Tech-Nostalgie-Blogs auftauchen. Sie basieren alle auf dem gleichen Prinzip: Es sind mit hochfrequentem Strom beschickte Spulen, die im Körper des Patienten oder der Patienten einen Induktionsstrom verursachen sollen, der für den Behandelten nicht fühlbar ist, aber sich „durch Aufleuchten einer Glühlampe bemerkbar machen lässt“.

Da „große Spule, deren Strom man nicht spürt“ wohl ein ziemlicher Abtörner gewesen wäre, nannte man das Ding bombastischerweise einen „großen Solenoid“, was mir als Scifi-Fan total sympathisch ist. Hätte ich auch so genannt. Allein der Placebo-Effekt dürfte den Dingern eine Erfolgsquote von mehr als 30 Prozent gesichert haben – in Anbetracht des beeindruckenden Maschinenaufbaus bestimmt auch mehr.

(Spott einmal beiseite: Natürlich gibt es tatsächlich Anwendungsmöglichkeiten für Elektrotherapie. Die sehen heute aus gutem Grund aber anders aus)

Allzu viel Bedenken, sich in so einen Käfig zu setzen, dürfte Ur-Uroma übrigens nicht gehabt haben. Erstens galt Hochfrequenztherapie als Hightech und letzter Schrei, und zweitens hatte die Behandlungsmethode auch in anderer Hinsicht einen höchst angenehmen Nebeneffekt für Mediziner und Patient: Man konnte seine Klamotten anbehalten.

Der Zauber der Wirklichkeit: Dawkins ganz entspannt

Mit den Büchern von Richard Dawkins ist das so eine Sache. Seine frühen, rein wissenschaftlich verorteten Titel enthielten echten Erkenntnisfortschritt. Sie waren zugleich nicht nur lesbar, sondern auch spannend und bestens erzählt. Vor allem Das egoistische Gen ist hier nach wie vor Pflicht – eine echte Einstiegsdroge in die Evolutionsbiologie.

Mit dem kämpferischen Atheisten Dawkins haben dagegen sogar viele Atheisten so ihre Probleme. Erlebt man ihn live und in Person, dann kommt er intelligent, scharfzüngig und witzig rüber. In gedruckter Form wirkt das alles oft grimmig und rechthaberisch. Warum immer so viel Schaum vor dem Mund, möchte man ihn mitunter fragen. Vor allem in seinem Bestseller Der Gotteswahn ist das spürbar (allerdings vor allem in der deutschen Übersetzung, die deutlich weniger Witz hat als das Original).

Als Markus Becker und ich vor rund einem Jahr Gelegenheit hatten, ihn an einem verschwiegenen Örtchen zu treffen und ausgiebig zu befragen, lernten wir jemanden kennen, der zu gleichen Teilen Wissenschaftler und Missionar in gottloser Mission zu sein schien. Ich fragte ihn damals, ob er keine Angst habe, dass das öffentliche Image des mitunter sehr bissigen Atheisten Dawkins irgendwann die Erinnerung an seine wissenschaftlichen Meriten überdecken könnte. Ich glaube, das war die einzige Frage, die ihn kurz geschockt hat. In der Schriftform des Interview klang das so:

„Mr. Dawkins, wenn Sie 60 Jahre nach vorn denken, an wen sollten sich die Menschen erinnern: An den Wissenschaftler, der mit dem Konzept des „egoistischen Gens“ zur Evolutionslehre beigetragen hat, oder an den vehementen Religionskritiker?“

Er zögerte kurz und antwortete dann: „Am liebsten an beide, ich sehe sie nicht getrennt voneinander. Aber es täte mir sehr leid, wenn mein Angriff auf die Religion das überschatten würde, was ich zur Wissenschaft beigetragen habe. Das wäre wirklich sehr bedauerlich. Aber ich sehe keinen Gegensatz zwischen diesen beiden Dingen, sie gehören zusammen.“

Markus und ich wählten als Überschrift für das bei SPIEGEL ONLINE in Teilen veröffentlichte Interview „Religion? Die Wirklichkeit hat ihre eigene Magie“. Dawkins erzählte uns damals von seiner Arbeit an einem Jugendbuch, in diesem Kontext fiel auch das Zitat. Im September 2011 hat er es veröffentlicht, in Deutschland wird man noch bis November 2012 darauf warten müssen. Es ist ein Buch, auf das es sich zu Warten lohnt, wenn man nicht Fit ist im Englischen, ansonsten gibt es keinen Grund zu Warten: Für mich ist es das beste Buch, das Dawkins seit etlichen Jahren veröffentlicht hat.

The Magic of Reality ist ein äußerst oppulentes, auf jeder einzelnen Seite wundervoll illustriertes Buch. Und es ist eines, in der natürlich – siehe oben – Wissenschaft und Religionskritik wieder einmal zusammen kommen. Doch diesmal passiert das in lockerer, entspannter, gänzlich ungrimmiger Form.

Es macht das eindeutig für Heranwachsende geschriebene Buch zu einer Lektüre, die auch für Erwachsene höchst lohnend ist, die mit Wissenschaft wenig am Hut haben. Dawkins erzählt darin von Mythen und Erkenntnissen, er plaudert und witzelt. Religionskritik ergibt sich daraus nur insofern, als dass er archaische Mythen meist religiösen Ursprungs mit unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen kontrastiert. Er lässt den Mythen dabei ihren Charme, ihren kulturellen Wert, macht aber stets klar, dass sie zur Erklärung der Welt eben nicht ausreichen.

Er geht dabei sogar nahezu überraschend sanft mit ihnen um. Die biblische Schöpfungsgeschichte stellt er in einen amüsanten Reigen mit anderen Schöpfungsmythen, ohne darauf einzuhacken: Ich hätte der Versuchung da nicht widerstehen können zu zeigen, dass auch diese biblischen Mythen nichts anderes sind als zusammengeklaute ältere Mythen anderer Stämme und Völkchen, die irgendwer in ausgehend neolithischer Zeit am Lagerfeuer zusammengerührt hat. Doch diesmal fährt Dawkins eben keinen „Angriff auf die Religion“, wie er das selbst nennt: The Magic of Reality ist in allererster Linie ein Buch, das die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis über unser Herkunft und unseren Platz im Universum an Menschen vermitteln will, die davon bisher kein Bild haben. Fast spielerisch leicht vermittelt er da sein Wissen über Evolutionsbiologie, Geologie, Genetik und andere Felder, die normalerwiese unter „Harte Nuss!“-Verdacht stehen. Das ist schlichtweg brillant gemacht.

Natürlich wirbt Dawkins dabei weiter für die Sache der modernen Aufklärung. „How we know what’s really true“ heißt der passende Untertitel des Buches im Original, der deutsche Titel kommt wie gewohnt gespreizter und langweiliger daher: „Der Zauber der Wirklichkeit: Die faszinierende Wahrheit hinter den Rätseln der Natur“ (erst ab November 2012). Unter dem Strich ist das trotzdem dasselbe. Dawkins schreibt hier mal wieder über etwas, statt gegen etwas anzuschreiben. Gut so, denn Ignoranz heilt man am besten mit Wissen, statt mit Vorwürfen.

Mein Fazit: Ein Jugendbuch, das ich ab 13 gern in die Hand bekommen und gelesen hätte. Und eines, für das man sich auch als Erwachsener nicht schämen muss. Selbst der, der vieles weiß, was Dawkins hier schildert, lernt dabei noch was: Zum Beispiel, wie man es so erklärt, dass auch Einsteiger es verstehen.