My Playlist (III): Heilung

Pubertät ist fast immer mit demonstrativer Ablösung von den lieben Eltern verbunden, und fast nichts eignet sich dafür so gut wie Musik. Meine Pubertät fiel mit den Hochzeiten von Punk (der fast vorbei war, als ich anfing, ins Nachtleben einzutauchen), den minimalistischen, auch Reggae-nahen Tönen von Police und Co, mit Ska und Madness und New Wave zusammen. Ich hätte es schlechter erwischen können in Sachen  Ablösung von den Älteren: Denen ging das alles angemessen kräftig auf die Nerven.

In besonderem Maße galt das für The Cure, die schon sehr früh mit Themen wie Depression, Selbstmord-Tendenzen etc. in Verbindung gebracht wurden. Cure sind eine Band der ausgehenden Siebziger Jahre, die musikalisch erheblich fruchtbarer und facettenreicher waren als die folgenden Achtziger. Zum Ende des Jahrzehnts konkurrierten da Police mit den Talking Heads, Madness, den Specials und Joe Jackson, und alles hatte Beat, war tanzbar und in seiner Essenz echte Party-Musik. Außer den Cure.

Die sahen aus wie Depressionskranke, die man als trauernde Punks verkleidet hatte, und machten eine höchst elementare Musik mit Texten, die es in sich hatten. Cure ist ein Schriftzug, den ich in den Tisch in meiner Klasse geritzt habe: Ich fand die immer nur lustig.

Mir geht das bis heute so. Wenn ich Robert Smith‘ Dackelgesicht sehe, wird mir immer noch warm ums Herz: der Kerl ist niedlich. Wenn er Depressionen oder Ängste haben sollte, dann definitiv nicht vor Kalorien:  Ein rundes, gesundes, fröhliches Mondgesicht könnte das sein, wenn er es nicht standesgemäß mit Schminke verwüsten würde (man würde ihn sonst auch kaum erkennen). Meist sieht er aus, als habe er sich die letzte Träne gerade erst abgewischt. Und dann schreibt er solche Texte:

„10:15 on a saturday night
and the tap drips
under the strip light
And I’m sitting in the kitchen sink
and the tap drips, drips, drips, drips…“

Klar ist der Sound des Songs düster, wenn man so will: Er zieht einen, auch wenn man nicht weiß wohin. Der Text malt ein Bild von der Verlassenheit des sitzen gelassenen. Und der sitzt ausgerechnet in der Küchenspüle und bekommt einen nassen Arsch, weil der Hahn tropft… – Hallo? Wie kann man das nicht lustig finden?

Ich glaube fest daran, dass das alles ironisch ist. Wenn man sich die Unplugged-Versionen anhört, wenn man Cure live hört und sieht, wie die Fans die Songs aufnehmen, wird das Missverständnis offenkundig. Das alles ist Karthasis, ein ironisches Spiel mit dem düsteren Gefühl, dass einen in Pubertätszeiten so plötzlich und mächtig anspringen kann. Smith zelebriert diese Momente und nimmt ihnen gerade dadurch ihr Albtraum-Potential. Mein Lieblingslied der Cure ist Lullaby, das Gute-Nacht-Liedchen also: Eine klaustrophische Albtraums-Szene, in der es heißt „Spiderman is having me for dinner tonight“ – serviert mit lustigen Pickings und Plugs, zu denen man sich auch einen kleinen Volkstanz vorstellen könnte. Am Ende des düsteren Gefühls steht da doch immer ein Lächeln.

My Playlist (II): Teenage Kicks

Was macht einen guten, zeitlosen Song aus? Was macht ihn glaubhaft? Emotional ansprechend in dem Sinne, dass er Gefühl nicht nur transportiert, sondern auch induziert: Was macht ihn also ansteckend?

Ich würde sagen: Dass Interpret und Interpretation sich decken, glaubhaft zueinander passen. Beispiel: „Teenage Kicks“ von den Undertones. Das Lied gilt als eine der Hymnen der Punk-Ära, ist aber im Grunde klassischer Rock ’n Roll: Immerhin sechs Akkorde werden da runtergespielt, vier in der Strophe, vier im Refrain. Hoch, runter, nichts besonderes.

Und der Text? Ein Archetyp pubertärer Sehnsucht:

„A teenage dream’s so hard to beat
Every time she walks down the street
Another girl in the neighborhood
Wish she was mine, she looks so good
I wanna hold her, wanna hold her tight
And get teenage kicks all through the night“

Besonders war der Sänger, Feargal Sharkey. Aufgewachsen auf Derrys katholischer Seite, wo einst die heiße Phase des Nordirlandkonfliktes begann, war der 1978 ein dürres 20-jähriges Kerlchen mit fiepsiger Stimme, dem man die sehnsuchtsvolle Hymne auf das Mädchen, das er sich als Partnerin erträumt, ohne je eine Chance zu haben, problemlos abnahm. Zu einem Hit, den sich der legendäre DJ und Moderator John Peel auf seinen Grabstein gravieren ließ, machte das einfache Liedchen genau diese Autentizität:

Sie ist die Bedingung dafür, dass dieses so einfach konstruierte Stückchen Musik etwas Emotionales lostritt – Teenage Kicks eben. Deshalb musste es in die Hose gehen, als die Schwiegermuttertraum-Weichspüler von Snow Patrol das Lied zu einer Art wutlosen Depressions-Aufarbeitung verwursteten. Bei Busted klingt es, als würde das Stück von schon als Kindern gecasteten Auswendig-Lernern gespielt, und bei Nouvelle Vague nur noch gekünstelt. Green Day spielen das Stück so routiniert, wie sie jeden Punk-Klassiker zur Qualitäts-Konserve machen – ein ironisch serviertes Zitat, das sie Live gern in ein Medley einbinden, in dem sie es mit Blur, den Beatles und Tears for Fears verrühren.

Jack White bekommt die Nummer hin, weil er sich offenbar noch immer ein Stückchen von dem Hunger darin bewahrt hat (hört man auch prächtig in “Seven Nations Army”, noch so ein Ding für die Ewigkeit). Besser als irgendjemand sonst schaffen es aber ausgerechnet die deutschen Bühnenhelden von den Beatsteaks – derzeit eine der klassisch britischsten Bands überhaupt.

Die bemerkenswerteste Version aber kommt vom Ukulele Orchestra of Great Britain. Die Ukuleles schaffen es ohne jede Peinlichkeit, ihre Jugend zu zitieren, ohne sie weiter vortäuschen zu müssen. Das ist Souverän und genau das, was die zu ewiger Pubertät verurteilten Mich Jaggers dieser Welt nicht draufhaben. „We can dream“, sagt der Sänger einleitend, „and I’m still dreaming.“ Cooler geht das nicht.

My Playlist (I): Die Methode Tarzan

Eine der schönsten Arten, heute Musik zu entdecken, ist die „Methode Tarzan“, wie Ulf Grüner das 1996 mal in einem Artikel genannt hat: Irgendwo anzufangen und sich dann von einem Link zum anderen durchs Web zu schwingen. In den Zeiten vor dem Aufkommen wirklich fitter Suchmaschinen war genau das die normale, optimale Bewegung im Netz – das ist es, was mit „Surfen“ einmal gemeint war. Heute ist es ziemlich out. Die meisten Leute haben ihre Stammseiten, die sie  immer wieder besuchen.

Einige von denen sind heute allerdings zu Größen angewachsen, dass man ohne Probleme auch innerhalb so einer Site hangeln kann bis zur Erschöpfung. Definitiv in diese Liga gehört natürlich Youtube, das für mich nicht zuletzt eine Stöberkiste für zu entdeckende Musik ist. Mit jedem aufgerufenen Song bietet Youtube ja weitere an, die der Algorithmus der Webseite für verwandt oder sonstwie geeignet hält, weil irgendwer vor mir sich für diese Vorschläge entschieden hat, der sich auch das gerade gehörte Lied anhörte. Ideal für die Methode Tarzan.

Es hat den kleinen Nachteil, dass man sich so quasi in musikalische Subräume begibt: Cluster von Künstlern und Songs, die irgendetwas gemein haben – eine Genre-Orientierung, eine Stimmung, die Beliebtheit in einer bestimmten Subkultur.

Man hört das auch den Songs in diesem Blog-Eintrag an. Sie decken ein gewisses Spektrum ab, haben aber alle etwas „Indy“-haftes, etwas leicht Schräges. Ich mag das, auch wenn es nicht gerade Feiermusik ist. Es ist eingängig, originell und meist leicht melancholisch, wenn es nicht ironisch daherkommt.

In letztere Kategorie gehören sowohl der fröhlich plätschernde Sound der Kids von San Cisco (haben erst seit November 2011 einen Plattenvertrag: bei Itunes gibt es bisher nur zehn Einzellieder in zwei EP-Sammlungen zu kaufen), deren Teenie-Töne im ersten Eindruck so oberflächlich wirken, als auch der leider im letzten Jahr verstorbene Vic Chesnutt, dessen so traurig daher kommendes „What do you mean?“ in Wahrheit sehnsuchtsvoll und heiter ist – ein Song mit echter Pointe, die musikalische Entsprechung eines bittersüßen Lächelns. Beides ist durch und durch ironisch.

Anders als die Wooden Birds mit ihrem „Believe in Love„. Ich mag die Holzvögel wegen ihrer disziplinierten Sparsamkeit. Ganz ruhig zieht der Song dahin, man wartet förmlich auf den nächsten Stimmeinsatz, und jeder gesungene Satz kommt irgendwie ein kleines bisschen zu spät. Ich liebe den Song, wenn ich Auto fahre.

Die Sound-Tüftler von Made in Heights kommen aus einer ganz anderen Ecke. Oft lavieren sie irgendwo zwischen Electronic, Club und Soul, aber in keinem ihrer Lieder so gekonnt wie in „Wildflowers“. Es ist ein Lied von enormem Wiedererkennungswert – und ein Ohrwurm der Sonderklasse, dem sich vom Klassikhörer bis zum Metall-Freak nur wenige entziehen können. Auch bei diesem Projekt ist Kaufen übrigens Fehlanzeige: Sie verteilen ihre Musik über Blogs und halten sie gesammelt bei Youtube vor – mehr ist bisher nicht: Man darf sich als Early Adopter fühlen.

Das alles sind Dinge, die man im deutschen Radio niemals hört. Man entdeckt sie mit der Methode Tarzan. Angefangen hatte ich bei San Cisco, mich von da aus weiter gehangelt. Auf dem Weg acht, neun Stationen gemacht, die mich weniger ansprachen, die hier unerwähnt blieben. Das tolle daran ist, dass diese Reise durch YouTubes Musik für andere nicht nachvollziehbar sein wird, denn jede dieser Hangel-Partien verläuft anders. Probieren Sie es aus: Greifen sie irgendwo hin und schwingen sie sich weiter. Es gibt dümmere Arten, einen Abend vor dem Bildschirm zu verbringen.