Angekommen: das Mittelalter

Gestern ging die Ausgabe 3/2020 von SPIEGEL GESCHICHTE an den Kiosk. Es ist das zweite Heft der Reihe, dass ich mitverantwortet habe. Das Arbeiten in der „Nische“ fühlt sich gut an: Man wird zum Nerd auf Zeit. Ende letzten Jahres lebte ich ganz und gar in den 1920er-Jahren, danach arbeitete ich mich in die Bautechnik ägyptischer Pyramiden ein, jetzt war es für rund drei Monate das Mittelalter.

Ich habe u.a. den gesamten Waffenteil des Heftes produziert, was intensive Beschäftigung mit der Materie erfordert. Ich kann jetzt mittelalterliche Schwertypen am Knauf erkennen. Heute morgen hatte ich Post von einem Schriftsteller, der nach Informationen für ein historisches Buch suchte. Ich hatte auch da eine Antwort parat.

Das wird nicht so bleiben, denn auch diese Form des Fachjournalismus ist natürlich Expertentum auf Zeit: Ein Thema löst das andere ab, aber in einem guten Rythmus. Zurzeit pflüge ich durch die Biografie von August Thyssen, und auch, in welchen Epochen und Themenbereichen ich in den folgenden Monaten unterwegs sein werde, weiß ich bereits.

Es ist ein Genuss. Dieses im Vergleich zum Tagesjournalismus tiefe Eintauchen in Themen ist ein Luxus, den man als Journalist nicht allzu oft erlebt. Mich führt das ein Stück weit zurück an meine Wurzeln. Was ich vor allem gerade wieder neu lerne: Intensives Lesen, denn das ist wirklich anders als im eiligen Nachrichtenjournalismus. Die Quellen sind umfänglich, die Masse an Material enorm. Verblüfft stelle ich fest: Als Schreiber und Redakteur wie Leser finde ich das entschleunigend.

Wem die Nachrichtenflut von Trump bis Corona zu viel wird, kann ich das nur empfehlen: mehr Kontrastprogramm als das Eintauchen in vergangene Zeiten kann ich mir kaum vorstellen.

 

Online-Publishing: Perlen hinter Pay-Walls

Heute morgen ging eines der aufwändigsten Stücke, die ich in nun bald 20 Jahren für SPIEGEL Online produziert habe, hinter der Paywall von SPIEGEL Plus online. Für mich keine ganz neue Erfahrung, ich habe im letzten Jahr auch viele Artikel für Daily geschrieben, die ja auch „nur“ für Abonnenten sichtbar waren.

Trotzdem sind das merkliche Veränderungen, die für Schreiber wie Leser gewöhnungsbedürftig sind.

Wir Autoren müssen uns wieder an den Gedanken gewöhnen, mit unserer Arbeit nicht mehr die ganz große Masse zu erreichen. Beim für jedermann abrufbaren SPON finden manche Artikel sechs-, selten auch einmal siebenstellige Leserzahlen.

Das war lange Zeit sehr befriedigend. Weniger befriedigend war allerdings schon immer, dass auf der großen, kostenlosen Plattform die Agenturmeldung mit 650 Zeichen auf Augenhöhe mit dem Autorenstück konkurriert, in das jede Menge Know-how, Tage von Arbeit mit Recherche- und unter Umständen Reiseaufwand flossen. Wenn man Pech hat gewinnt dann gerade die profane Agentur („Das neunte Mal: Promi XYZ heiratet wieder“) gegen das Relevante, Schöne, Erhellende, das nicht wahrgenommen wird.

Für den Leser war und ist die große Plattform ein Selbstbedienungsladen, in dem Perlen neben Plörren liegen. Beim Klick auf eine Überschrift weiß auch er/sie nicht, ob es nun knappste Agenturware, die man auch anderenorts findet, oder tief ausrecherchiertes Exklusives gibt. Manchmal ist die Überraschung positiv, oft aber auch nicht.

In gewissem Sinne schafft ein Pay-Angebot wie Plus hier klare Verhältnisse: Was bezahlt werden muss, soll auch etwas wert sein.

Das ist ein Ansatz, der Produktenttäuschung vermeiden muss, sonst funktioniert er nicht. Ich weiß, dass Viele das nicht so sehen, aber ich halte es inzwischen für einen Fortschritt. Wie sonst soll man journalistischen Aufwand refinanzieren?

Nehmen wir mein Nordirland-Stück: Ich bin dafür sechs Tage entlang der inneririschen Grenze unterwegs gewesen. Zurück kam ich mit elf Interviews mit einer Gesamtlänge von über sechs Stunden, von denen nur Auszüge aus Vieren in den Artikel einflossen. Sowas muss man sichten, zumindest in Teilen transkribieren, übersetzen. Dann kommt das Schreiben, die Recherche von Background, die Überprüfung von Quellen. Die technische Produktion, das Layout. Insgesamt, schätze ich, sind da gut zehn bis elf Tage eingeflossen.

Das Resultat: Ein Artikel mit Stimmen und Informationen, die man heute definitiv nirgendwo anders wird lesen können – und für die man Tage braucht, um sie zusammenzutragen. Exklusiver Inhalt, dessen Entstehung viel zu aufwändig war, um ihn verschenken zu können. Es würde sich nicht rechnen.

Man muss das Aufkommen von Pay-Modellen im Online-Publishing nicht bejubeln. Leser zahlen nicht gern, und Schreiber haben gern viele Leser. Beide mögen es aber auch, wenn das Produkt – der Artikel, der Hörfunk- oder Videobeitrag – von einer Qualität ist, die befriedigt. Wir alle werden uns wohl mittelfristig daran gewöhnen müssen, dass so etwas immer häufiger einen Preis haben wird.

Es ist eine pragmatische Entscheidung, denn die Alternative dazu ist, dass Aufwändiges erst gar nicht mehr entsteht. Die Perlen im Publishing werden wir künftig hinter Pay-Walls finden.

Kleine Ehren: Ich bin Prüfungsrelevant

selfies

Gestern bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass mein Selfie-Text vom Juni letzten Jahres Abituraufgabe Nummer Drei im niedersächsischen Deutsch-Abitur 2016 war (und offenbar eine ziemlich populäre Wahl).

Hüstel-hüstel: Es wäre geheuchelt, wenn ich behaupten würde, dass das meiner Wenigkeit nicht schmeichelte.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass mich die meisten der Abiturienten offenbar für uralt und komplett ahnungslos halten. So irritierte der Titel „Egoshooter“ die meisten der Kids ganz erheblich, weil der ja irreführend und unpassend war und zu Verwechslungen mit den gleichnamigen Videospielen führen konnte. Aber darum ging es inhaltlich ja gar nicht!

Schwamm drüber, schnell hatten alle kapiert, dass es in Wahrheit um Selfies ging (und manche erkannten sogar, dass das was mit Egozentrik zu tun haben könnte). Aaaaaaber, „schwache Argumente“ hätte ich, schrieb ein Schüler in einem Diskussionsforum: „Ich meine, wen interessiert die Meinung seiner Frau?“

Genau, denke ich auch manchmal. Man lernt dann aber im Laufe seines Lebens, dass sich Relevanz im Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen anders definiert.

Ein anderer analysierte tiefergehend: „Vor allem scheint der Autor jemand aus der alten Generation zu sein, der selbst nie die tatsächliche Wirkung von Selfies erprobt hat (so blöd es auch klingt). Er sinniert da quasi über Dinge, über die er nicht fachkundig ist.“

Hallo? Ich könnte ihm jetzt Selfies zeigen, die ich 1978 – OHNE STANGE! – gemacht habe. Aber erstens sah ich mit den langen Haaren und der knallengen, weißen Schlaghose nach heutigen Maßstäben so dämlich aus, dass mich das vollends diskreditieren würde. Und zweitens müsste ich ihm erklären, dass sich mein Selfie von seinen Selfies tatsächlich massiv unterschied.

Trotzdem: Sowas liest man doch gern, wenn sich junge Leute so eingehend mit einem Text beschäftigen, von dem sie offenbar annehmen, er wäre strategisch geplant: „Mir ist aufgefallen, dass er bei Befürwortung Hypotaxen verwendet und bei Ablehnungen Parataxen„, erkennt Forennutzer und Frisch-Abiturient „mamapa“ scharfsinnig.

Echt jetzt? Da kann mal sehen. Man lernt nicht aus, auch über sich. „mamapa“ weiter: „Jedoch konnten die Hypotaxen seine Argumente auch nicht wirklich bestätigen, da die Argumente, wie ich finde, sehr schwach waren.“

Klar, davon gingen wir inzwischen ja schon aus.

Zur Rettung der eigenen Ehre: So einige sahen das auch anders. Unter dem Strich kam ich sogar ganz gut weg mit meiner Abiturtext-Vorlage. Könnte man vielleicht so zusammenfassen: Gemessen an meinem biblischen Alter bin ich gar nicht so doof, wie man erwarten müsste.

Das sah sogar „RoxasNova“ so, die sich redlich bemüht hatte, irgendwo in meinem Geschreibsel die bösartige Fußangel zu finden: „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich extrem paranoid bin, und versteckte Botschaften nicht identifizieren konnte… aber der Text war sehr angenehm.“

Danke dafür, Euch allen!
In Echt, ich so: Yo!

P.S.: Könnte mir vielleicht mal ein 17-jähriger „die tatsächliche Wirkung von Selfies“ (siehe oben) erklären? Steht die im Gegensatz zur Angeblichen? Und auf wen wirkt sie? Und wie und wozu?
Könnte es sein, dass ich wirklich was verpasst habe?

P.P.S.: In einer früheren Version dieses Textes hatte ich das hintere „i“ in „Abiturient“ vergessen. Der Lack ist halt ab in meinem Alter: Da übersieht man sowas. Abzug in der B-Note, mindestens.

 

Storytelling-Projekt SPON20: Binnensicht

spon20
Special zu 20 Jahre SPIEGEL ONLINE: www.spon20.de

 

Am heutigen Dienstag ist das inhaltlich von Jule Lutteroth und mir erarbeitete Special zu 20 Jahre SPIEGEL ONLINE veröffentlicht worden. Ich habe die letzten zweieinhalb Monate fast ausschließlich daran gearbeitet.

Gespannt bin ich nun darauf, wie das ankommt: Wie viele Leser findet so etwas? Wie vollständig wird es genutzt? Der Aufwand hinter so einem Projekt ist enorm, und er ist nicht wirklich sichtbar. So ein Projekt bindet die Arbeitskraft vollständig: meine voll, Jules erst teilweise, in den letzten 6 Wochen dann ebenfalls voll. Ich vermute mal, durchgerechnet käme man hier locker auf 100 Vollzeittage und mehr.

Interessant ist so etwas, weil „andere Erzählformen“, multimediale Info-Aufarbeitung etc. ja immer häufiger eingefordert werden. Das steht im krassen Gegensatz zum Medientrend der rapide schrumpfenden Ressourcen. Gute Onlineredaktionen arbeiten selbverständlich auch mit einer Themenvorplanung, wo Recherchen angeschoben, Reisen unternommen oder Autoren beauftragt werden. Diese Sahnestückchen sind aber natürlich die Kür, die Ausnahme im schnellen Newsflow.

Das originäre Format des Onlinejournalismus ist die ad-hoc-Produktion: Info bekommen, verarbeiten, publizieren. Sofort. Der Ausbau durch Nachfragen und Zusatzrecherchen geschieht je nach Wichtigkeit des Themas – was Online vor allem „Eiligkeit“ bedeutet – entweder vorher oder sukzessive nachher. Da ist „Storytelling“ ein echter Bruch.

Für ein publizistisches Dickschiff wie uns bei SPIEGEL ONLINE sind ein paar solcher Projekte pro Jahr natürlich stemmbar. Bei Tageszeitungen unterhalb der SZ/Welt-Schwelle sehe ich das auf Dauer nicht. Da wird man an Kooperationen kaum vorbeikommen. Zumal es anders auch nicht finanzierbar sein dürfte: Man stelle sich vor, eine Regionalzeitung wollte so etwas als fertiges Produkt einkaufen. Hunderte Arbeitsstunden, dazu Grafik, Lizenzen, Bildredaktion, Programmierung?

Vielleicht setzen sich solche multimedialen Ansätze ja trotzdem durch. Noch wissen wir noch nicht einmal, ob es wirklich der Leser ist, der danach verlangt, oder wir Medienmacher uns nur vorstellen, dass der Konsument das will. Ich persönlich bin da Pragmatiker, weil ich mein eigenes Leseverhalten kenne: Einen konsistent geschriebenen Artikel lese ich auch dann zuende, wenn er lang ist. Ein Inhaltepaket, wie ich das jetzt selbst mit erarbeitet habe, lese und konsumiere ich selektiv. Für mich als „Macher“ bedeutet das, dass die meisten Nutzer nie vollständig lesen/hören/sehen werden, was wir für sie da zusammengestellt haben.

Wie auch immer: Jetzt hat der Dampfer spon20 abgelegt, man wird sehen, wie und wo er ankommt. Ich bin seit Montag zurück im redaktionellen Alltag: Drei Artikel, die bis zum Wochenende erscheinen sollen, sind in Arbeit, eine Recherchereise mit Terminen für drei weitere ist in Vorbereitung/Verhandlung.

Normal, das ist Onliner-Alltag. „They sentenced us to 20 years of newsdom, to try and change the system from within…“ dichtete Kollege Andreas Borcholte heute morgen frei nach Leonard Cohen bei Facebook. Egal, wie man zu uns Onlinern steht: Das haben wir wohl. Mal schauen, wie es weiter geht.